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Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)

Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michele Giuttari
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Gehabe war mit einem Schlag in sich zusammengefallen. Der Vermummte folgte ihm dicht auf den Fersen, die Pistole stets in seinen Rücken gedrückt. Immer wieder befahl er ihm, nicht stehen zu bleiben, undstieß ihn mit dem Lauf weiter. Sie stiegen einen langen Pfad hinauf, bis sie die Hütte erreichten, aus der er geflohen war. Drinnen zog Diego sich aus und legte sich unter die Decke. Er zitterte am ganzen Leib. Er fühlte sich, als wäre er plötzlich um zehn Jahre gealtert.
    Nach ein paar Minuten kam ein anderer Mann mit einer Sturmhaube über dem Gesicht in den Verschlag. Er war größer als die anderen beiden, die ihn hierher geführt und bis zu seiner Flucht bewacht hatten.
    »Wo wolltest du denn hin?«, fragte er spöttisch und mit einer Stimme, die in Diegos Ohren so kreischend klang wie Kreide auf einer Tafel. Er hob den Kopf ein wenig, ohne zu antworten.
    »Mut hast du ja, das muss ich dir lassen«, fuhr der Fremde fort. »Aber du hättest es nie hier rausgeschafft. Auf den Wegen sind überall unsere Männer. Wir hatten dich gewarnt, dass sie dich erschießen. Du hast Glück, dass wir es waren, die dich erwischt haben. Selbst wenn du bis zum Dorf gekommen wärst − dort hättest du nur noch mehr von unseren Leuten angetroffen. Nicht überall, nicht im ganzen Dorf, aber fast. Du wärst regelrecht gegen eine Mauer gerannt, und sie hätten dich uns übergeben. Oder gleich getötet. Aus diesen Bergen kommt man nicht lebend heraus. Das ist noch keinem gelungen. Das hier ist unser Territorium«, schloss er stolz.
    Diego schwieg hartnäckig. Er zitterte immer noch. Ließ den Kopf auf die Brust sinken. Dann fing er an, so stark zu husten, dass er sich vornüberbeugen und seinen Bauch umklammern musste. Vielleicht, weil er sich erkältet hatte, vielleicht auch, weil er furchtbar wütend war und kein anderes Ventil für seine Wut fand. Der Mann näherte sich ihm und kettete ihn an einem dickeren Brett an. Diesmalwickelte er die Kette einmal mehr herum und nahm auch ein größeres Schloss.
    »Jetzt mach bloß keinen Scheiß mehr«, warnte er zum Schluss. »Im Umkreis von mehreren Kilometern ist kein Mensch außer uns. Hast du das jetzt endlich begriffen?«, sagte er und ging hinaus.
    Diego stöhnte lautlos und verfluchte sich, weil er sich in diese Lage gebracht hatte.

    Auch in San Piero d’Aspromonte strahlte an diesem Morgen die Sonne.
    Der Himmel war von einem fast unwirklichen Blau und die Luft seltsam lau und einladend. Ein wunderbarer Tag.
    Angela beschloss, mit ihrer Tochter eine Spritztour im Auto zu machen. Vielleicht, um die angestaute Anspannung loszuwerden, oder auch nur, um lieb gewonnene Plätze wiederzusehen. Sie beide, ganz allein: eine gute Gelegenheit, um mal von Frau zu Frau miteinander zu reden, auch über Alfredos Fernbleiben von zu Hause. Maria wusste noch nichts davon, und Angela konnte es nicht länger vor ihr verbergen. Früher oder später musste sie es ihr sagen. Besser früher. Und so saß sie bald darauf am Steuer eines alten Fiat 127 und fuhr hinauf in die Berge. Die Straße führte stetig in Serpentinen bergan und war in manchen Kurven ziemlich rutschig. Sie erreichten die Hochebene des Stoccato, wo sich das dort errichtete große Holzkreuz imposant von dem weiten Himmel abhob. Sie parkte nicht weit davon. Außer ihnen war niemand da. Keine indiskreten Augen. Stille. Sie stiegen aus und tauchten in diese absolute Ruhe ein. Das Chaos, der Lärm, der Staub, die dröhnendenMotoren und der Smog der Stadt waren weit weg. Tief atmeten sie den würzigen Duft von Harz, Wildblumen und Gräsern ein, den Duft unberührter Natur.
    »Komm, mein Kind, gehen wir ein Stück!«
    »Einen Moment, Mama«, sagte Maria, die zu dem Kreuz aufsah.
    »Nun komm schon!«
    Aber Maria starrte immer noch auf eine ausgebesserte Stelle auf Brusthöhe; die Reparatur war vorgenommen worden, um mehrere Einschusslöcher zu überdecken.
    »Was ist hier passiert, Mama?«
    »Nichts, Maria.« Sie nahm die Hand ihrer Tochter und zog sie fort, die Füße in einen weichen Nadelteppich gestemmt.
    Sie gingen durch einen Pinienwald, bis sie zum Rand des Berggrats kamen. Eine atemberaubende Aussicht bot sich ihnen: über die herrliche Talebene bis zum Ionischen Meer am Horizont.
    »Setz dich, Maria, hier neben mich.« Ihre Tochter kam der Aufforderung nach, dann zeigte sie nach rechts auf einen großen Felsen in Form eines Panettone-Kuchens: »Wie schön, Mama, das sieht ja aus wie eine Skulptur!«
    »Das ist der Pietra Cappa.

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