Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)
Darum ranken sich viele Geschichten. Noch heute erzählt man sich, dass die Hirten manchmal ein seltsames Geräusch aus seinem Innern hören.«
»Sind das alte Legenden?«
Die Mutter nickte und schickte dann ein nachdenkliches »Ja« hinterher.
»Warum ist Papa eigentlich nicht mitgekommen?«, fragte Maria. »Mit ihm wäre es noch schöner hier.« Ihr Blick wanderte vom Pietra Cappa zum Gesicht ihrer Mutter. Dies war der Moment für Angela, mit der Sprache herauszurücken.
»Maria, dein Vater ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen …«
»Waaas? Wieso das denn?« Marias Augen weiteten sich vor Schreck.
»Neulich abends haben wir uns gestritten, und am nächsten Tag ist er fortgegangen, aber er wird bestimmt bald wieder auftauchen, wirst sehen.«
»Warum habt ihr euch gestritten?«
Angela zögerte und wusste nicht, wie sie diese schwierige Frage beantworten sollte.
»Sag schon, Mama, erzähl’s mir!«
»Er hat mir nicht die Wahrheit gesagt …«
»Worüber?«
Das war noch schwerer zu beantworten.
»Das ist eine lange Geschichte, Maria, du würdest sie sicher nicht verstehen. Du bist in einer anderen Umgebung aufgewachsen. Amerika ist eine ganz andere Welt … Es genügt, wenn du weißt, dass er mir nicht die Wahrheit sagen wollte.«
»Nein, Mama, so kannst du mich nicht abspeisen. Ich will wissen, wo Papa ist!«
»Ich weiß nicht, wo er hingegangen ist.«
»Dann müssen wir zu den Carabinieri gehen! Kann doch sein, dass ihm was passiert ist, ein Unfall oder ein Herzinfarkt oder sonst was. Sie werden ihn bestimmt finden.« Maria begann zu schluchzen.
Angela entschied, dass es an der Zeit war, ihrer Tochter einige Dinge zu erklären. Zum Beispiel die wichtigsten Regeln der »Familie« wie die Omertà – das Gesetz des Nichtssehens, Nichtshörens, Nichtssagens –, gegenseitiger Respekt, Treue und was sonst noch zum Verhaltenskodex der Gesellschaft der Ehrenmänner gehörte. Alles vollkommen neue Töne für die Tochter, die ihrer Mutter mit weit aufgerissenen Augen zuhörte. »Mit dieser Welt will ich nichts zu tun haben! Ich will nur, dass Papa bald zu uns heimkommt, und dann will ich wieder nach New York.«
Langsam nebeneinanderher gehend, kehrten sie zum Auto zurück. Maria weinte immer noch. Sie sah verwirrt aus, wie vor den Kopf geschlagen. Angela wollte sie ablenken und wechselte daher das Thema, sobald sie den Motor angelassen hatte. »Hier bin ich oft mit deinen Onkeln gewesen, schon als wir noch kleine Kinder waren. Wir liebten diesen Ort, besonders Rocco, der später dann seine Freundin Teresa mit hierher genommen hat, und ich war mit deinem Vater da.« Zum ersten Mal ließ sie sich einen Hauch von Sentimentalität anmerken, aber das dauerte nur einen Augenblick. Sie wendete und fuhr zurück.
»Wer war Teresa?«, fragte Maria nach einer Weile.
»Sie war die Verlobte deines Onkels Rocco und wohnte gleich bei deiner Oma um die Ecke, aber sie haben sich später getrennt.«
»Davon hast du mir noch nie erzählt. Warum haben sie sich getrennt?«
»Ach, er wollte sie heiraten und eine Familie mit ihr gründen, aber sie war nicht die richtige Frau für ihn … Nein, das war sie nicht.«
Damit drückte sie aufs Gaspedal und sagte nichts mehr.
Es war im Frühjahr 1986.
Eine Streife des Polizeikommissariats von Siderno hatte Rocco Fedeli überrascht, als er von einem Möbelgeschäft weglief, vor dem er soeben einen Sprengsatz angebrachthatte. Die Beamten verhafteten ihn wegen unerlaubten Sprengstoffbesitzes und versuchter schwerer Sachbeschädigung. Rocco war zum ersten Mal in seinem Leben im Gefängnis gelandet. Als er nach sechs Monaten Untersuchungshaft nach Hause zurückgekommen war, hatte ihn eine böse Überraschung erwartet: Seine Verlobte Teresa, ein zierliches, anmutiges Mädchen von achtzehn Jahren mit einem Gesicht wie Milch und Blut, hatte ihn merkwürdig nervös und mit starrer Miene empfangen. So ganz anders, als er sie verlassen hatte. Sie verbarg etwas vor ihm, das war klar. Auf seine beharrlichen Fragen hin hatte sie ihm schließlich ihr Herz ausgeschüttet und von den wiederholten Verführungsversuchen ihres gemeinsamen Freundes Pasquale berichtet.
»Pasquale hat immer wieder versucht, mich zu küssen und mich anzugrapschen, um eine richtige Frau aus mir zu machen – das waren seine Worte! Und er hat dabei ganz anders ausgesehen, gar nicht mehr wie der Freund, den wir kennen«, erzählte sie unter Tränen.
»Und du?«, hatte Rocco gefragt und ihr forschend in
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