Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)
Entführungsopfern mit angesehen hatte? Es war zu viel, es war wirklich zu viel.
Er wurde sich der Wut bewusst, die er empfand. Wut über die moralische Verwahrlosung, in der dieser wunderbare Landstrich mit seinem intensiven Duft nach Meer und Bergamottblüten versank, ein Landstrich, der doch größtenteils von anständigen Menschen bewohnt wurde.
Abrupt schlug er die Augen auf, und die Erinnerungen verblassten. Seine Gedanken waren wieder zurück in der Gegenwart und bei dem Anlass, der ihn erneut nach Kalabrien führte. Er warf einen Blick aus dem Fenster und erkannte die Lichter der Landebahn. Die Maschine durchpflügte die Dunkelheit, näherte sich, schnell an Höhe verlierend, dem Flughafen. Als sie gelandet waren und der Pilot den Motor abgestellt hatte, war er unter den ersten Passagieren, die die Gangway hinuntereilten. Seine Beinewaren eingeschlafen. Er stampfte mit den Füßen auf, und seine Muskeln entspannten sich. Die Ankunftshalle war noch genauso, wie er sie in Erinnerung hatte. Am Ausgang erwartete ihn überdies eine angenehme Überraschung.
»Wie schön, Sie nach so vielen Jahren wiederzusehen, Dottore«, empfing ihn der Fahrer, der ihn abholte, und schüttelte ihm herzlich die Hand.
»Na so was, was machst du denn hier? Bist du nicht Pietro?« Der Mann war einer seiner Mitarbeiter im Polizeipräsidium gewesen.
»Ja, allerdings. Ich soll Sie ins Hotel bringen. Ich arbeite jetzt bei der DIA .«
»Meinen Glückwunsch!«
Im Wagen steckte sich Ferrara eine halbe Toscano in den Mund. Er hatte das Bedürfnis, wenigstens ihren Geschmack zu kosten, wenn auch unangezündet.
»Na, rauchen Sie immer noch Ihre Zigarren, Dottore?«
»Und ob. An meinen Lastern hat sich nichts geändert.«
»Nein, wir sind es, die sich verändern, Dottore.«
Ein herbes Lächeln spielte um Ferraras Lippen. Er findet, dass ich alt geworden bin, aber auch er ist nicht mehr der Jungspund, den ich einst gekannt habe, dachte er.
»Bist du verheiratet, Pietro?«
»Ja, und ich habe eine Tochter, die aufs Gymnasium geht. Sie ist gut in der Schule, wissen Sie, will mal Richterin werden.«
»Das freut mich. Eine gute Entscheidung.«
Sie waren nun schon in der Nähe des Hotels.
»Dottore, sehen Sie mal, was wir jetzt für eine Strandpromenade haben! Erinnern Sie sich? Zu Ihrer Zeit gab es die noch nicht.« Stolz schwang in seiner Stimme mit.
Ferrara betrachtete die Neuerung, die allerdings auch dieeinzige war. Auf der Fahrt war ihm alles unverändert erschienen, selbst die Straßen mit ihrem geflickten Asphalt. Die Strandpromenade war jedoch tatsächlich vollkommen neu angelegt und mit bunten Blumenbeeten und Bänken aus Edelholz herausgeputzt worden. Durch den herrlichen Blick auf die Straße von Messina und die sizilianische Küste war sie der ideale Ort für einen Spaziergang an lauen Sommerabenden. Er dachte an Petra, die ihre Freude an der Blumenpracht gehabt hätte. Beinahe glaubte er, den lieblichen Duft riechen zu können – ähnlich dem, der dem Gewächshaus seiner Frau entströmte.
»Es heißt, das sei die schönste Strandpromenade von ganz Italien«, fügte Pietro zufrieden hinzu.
»Das glaube ich gern. Sie ist wirklich ein Glanzstück.«
»So, da sind wir.«
Ferrara verabschiedete sich von Pietro und betrat das Hotel.
Nachdem er eingecheckt hatte, ging er zum Aufzug und drückte den Knopf. Während er wartete, sah er sich um. Er hatte den Eindruck, dass ein Mann, der im Foyer stand, ihn hinter seiner aufgeschlagenen Zeitung beobachtete.
Er ging auf sein Zimmer und schloss die Tür, nachdem er das »Bitte nicht stören«-Schild draußen hingehängt hatte. Er war nicht hungrig, aber selbst wenn er einen Bissen hätte zu sich nehmen wollen, wäre das im Hotelrestaurant nicht mehr möglich gewesen, da es schon geschlossen hatte. Es war inzwischen kurz nach elf. Ihm fielen vor Müdigkeit die Augen zu. Der morgige Tag würde anstrengend werden, wenn Colonnello Trimarchi mit seinen Vermutungen richtiglag.
Eine halbe Stunde später rief er noch einmal Petra an. Er wusste, wie sehr sie gegen diese Reise war, und versuchtedaher, sie abzulenken, indem er ihr von den wunderbaren Blumen auf der Promenade erzählte. Doch Petra konnte nicht aus ihrer Haut.
»Pass auf dich auf!«, schärfte sie ihm ein.
»Mach dir keine Sorgen, Liebling. Am besten legst du dich jetzt schlafen, es ist schon spät. Wenn ich zurück bin, gehe ich mit dir in Carmen .« Er schickte ihr einen Kuss durchs Telefon.
»Ich werde erst noch ein
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