Bluttrinker (German Edition)
die Waffen, die man sofort sah. Er
begann sein Arsenal abzulegen, indem er diverse Klingen, Wurfsterne und
Pistolen den umstehenden Wächtern in die Hände drückte. Lukas folgte dem
Beispiel seines Vaters. Es machte ihm nichts aus, wenn man ihm anmerkte, wie
erleichtert er war. Für heute fiel der Krieg aus.
„Wie habt ihr die Burschen überwältigt?“, wollte Johann
wissen.
„Das war kein Kunststück“, wiegelte Christopher ab. „Sie haben sich durch
unsere Untätigkeit der vergangen Tage viel zu sicher gefühlt.“
„Unser Vorteil war, dass diese Typen keine Vorstellung von Loyalität haben.“
Matthias bedachte die gefangenen Männer mit einem geringschätzigen Rundblick.
Obgleich sie das unblutige Ende des Besatzungszustandes ihrer mangelnden
Wachsamkeit verdankten, verachtete er die Bluttrinker, die geglaubt hatten, die
Jäger würden ihren Anführer einfach abschreiben.
Johann trat näher an Marius heran. Lukas wusste, dass seine
Worte eher den Gardisten als seinen eigenen Leuten galten.
„Ihr dürft ihnen daraus keinen Vorwurf machen. Sie wissen nicht, wie unsere
Organisation funktioniert. Ratsmitglieder kommen und gehen. Diese Männer
schulden ihren Vorgesetzten keine lebenslange Treue. Sie werden einfach nur
bezahlt, und sie haben kein Recht zu fragen, ob ihre Aufgabe gerecht ist.“
Johann ließ sich vor der zusammengesunkenen Gestalt des einstmals so arroganten
Ratsherrn auf die Knie sinken, sodass ihre Augen auf gleicher Höhe waren.
Unwillkürlich hob Marius den Blick, sah dem Jäger in die forschenden Augen.
„Aber du! Hast du wirklich gedacht, du könntest diesen Männern einreden, ich
sei ein Verräter? Einer der Verbrecher, die wir seit Generationen bekämpfen?“
Obgleich Lukas wusste, dass er die körperlichen und seelischen Strapazen der
vergangen Tage diesem Mann zu verdanken hatte, schwappte eine unwillkommene
Welle des Mitgefühls über ihn hinweg. Seine telepathischen Sinne übermittelten
ihm, gegen seinen Willen, den Schmerz und die abgrundtiefe Verzweiflung, die
Marius einhüllten wie eine dunkle Wolke.
Johanns Eingehen auf Marius machte klar, dass sein Vater das Gleiche empfand.
Seine Untergebenen beobachteten ihn gespannt. Lukas begriff: Dieses
Einfühlungsvermögen, selbst einem Feind gegenüber, war eine Gabe seines Vaters.
Und seine Männer wussten das.
„Wirst du mich töten?“, fragte Marius, seine Stimme klang
rau, gebrochen. „Bitte! Töte mich!“
Marius senkte den Kopf, als würde er das Beil des Henkers willkommen heißen.
„Nein“, sagte Johann.
Die Jäger murmelten unruhig, als Marius auf dem rohen Steinboden zusammenbrach.
„Es ist mir gleich, was ihr tut“, stieß er hervor, „aber tötet mich! – Ich
bitte dich um ein schnelles Ende! Hab´ ich das nicht verdient, nach
Jahrhunderten Dienst für den Rat?“
„Vielleicht tue ich dir den Gefallen. Vorher will ich wissen warum.“
Aus blicklosen Augen starrte Marius durch Johann hindurch.
„Sie haben sie entführt. Sie haben Lena. Was hättest du getan? Sag mir das! Was
hättest du getan?“
„Deine Gefährtin?“
„Lena und Florian. Sie haben sie entführt. Er war erst fünf Jahre alt! Du hast
auch einen Sohn, Johann. Du hast eine Gefährtin.“ Marius verstummte, haltlos
schluchzend.
Lukas konnte nicht anders. Gegen seinen Willen, obgleich
diese sich am Boden windende Gestalt einen Teil von ihm anekelte, gab es eine
andere Hälfte von ihm, die sich seiner Qual nicht entziehen konnte und ihn zwang,
näher zu treten. „Er war fünf Jahre alt?“, fragte er.
„Sie haben ihn getötet.“ Marius Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Bist du sicher?“
Marius hob den Kopf, sodass er direkt in seine Augen sah.
Der Blickkontakt ließ Lukas keine Wahl. Er sah sie vor sich, die quadratische
Schachtel, die sich langsam öffnete. Darin lag der blutverschmierte Kopf eines
blonden kleinen Jungen. Krampfhaft schloss Lukas die Augen, doch das Bild hatte
sich in sein Gehirn eingebrannt wie in Marius Netzhaut. Es würde eine Weile
dauern, bis er es wieder loswurde.
„Lena“, fragte Johann, „Sie ist noch am Leben?“
„Ich weiß es nicht. Sie sagen, sie lebt noch.“
„Wer?“
Marius schüttelte den Kopf.
„Ich habe niemanden gesehen, niemanden gesprochen. Bei …“, der Ratsherr
schluckte krampfhaft, „bei Florians Kopf war ein Brief mit Anweisungen, was ich
zu tun habe, wenn ich Lena lebend wiedersehen will. Mehr weiß ich nicht,
Johann! Ich schwöre dir, mehr weiß ich nicht!“
40
Der Umzug ins
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