Blutvertrag
…«
»Ach, die kannte ich auch.« Linda beugte sich auf ihrem Sessel vor. »Sie hatte eine Kunstgalerie an der Forest Avenue.«
»Fünf Monate nach dem Brand«, sagte Lily. »Bei einem Besuch in Seattle wurde Evelyn auf einem Zebrastreifen überfahren. Der Schuldige hat Fahrerflucht begangen.«
»Aber Seattle …«, sagte Tim.
»Wenn jemand so weit weg stirbt«, sagte Linda, »dann sieht es weniger danach aus, dass sein Tod im Zusammenhang mit irgendwelchen Ereignissen hier bei uns steht. Genau deshalb hat man sie vielleicht in Seattle ermordet.«
»Und Jenny Nakamoto«, sagte Lily Chou.
»Das war die Tochter von Evelyn«, erklärte Linda. »Die beiden haben oft zusammen Kaffee getrunken. Ein hübsches Mädchen.«
»Ja. Jenny. So lieb, so fröhlich. Sie war Studentin in Los Angeles. Hatte in Westwood ein kleines Apartment über einer Garage. Jemand hat dort auf sie gewartet und sie vergewaltigt, als sie nach Hause kam. Anschließend hat der Kerl sie umgebracht.«
»Schrecklich.« Linda schauderte. »Das wusste ich noch gar nicht. Wann ist das passiert?«
»Vor acht Monaten, fünf Monate nach dem Tod ihrer Mutter in Seattle.«
Tim hatte den Eindruck, dass der starke, perfekt zubereitete Espresso inzwischen bitter schmeckte.
Lily stellte ihre Tasse auf das Lacktablett zurück. Sie beugte sich vor, faltete die Hände im Schoß und sagte: »Der Mord an Jenny war sehr hässlich.«
Mitten im Kreisen hatte der Bussard offenbar eine Beute erspäht und stürzte sich in die Schlucht. Nun war der Himmel leer.
Lily starrte auf ihre gefalteten Hände. »Sie ist an Münzen erstickt.«
Tim glaubte, nicht recht gehört zu haben. »An Münzen?«, wiederholte er fragend.
Was geschehen war, empfand Lily offenbar als so grässlich, dass sie nicht in der Lage war, den beiden in die Augen zu schauen. Den Blick weiter auf ihre Hände gerichtet, antwortete sie: »Er hat Jenny an Händen und Füßen gefesselt, dann hat er sie aufs Bett gepresst und ihre eine Rolle Münzen in den Hals gesteckt.«
»Mein Gott«, stieß Linda aus.
Tim war sich sicher, dass das Letzte, was Jenny Nakamoto unter Tränen gesehen hatte, jene erweiterten Pupillen gewesen waren, die nach Licht gierten, nach Jennys und dem aller anderen.
»Ein Herzinfarkt, ein Autounfall, ein Sexualverbrechen«, sagte er. »Auch wenn ich verstehe, dass die Polizei da keine Verbindungen sieht, glaube ich, dass Sie Recht haben, Lily.«
Sie sah ihm in die Augen. »Es waren nicht nur die drei. Auch der nette Mr. Shotsky, ein Anwalt, und seine Frau. Sie waren oft gemeinsam bei uns im Café.«
»Die kannte ich nicht«, sagte Linda, »aber ich habe davon in den Nachrichten gehört. Er hat sie erschossen und dann mit derselben Waffe Selbstmord begangen.«
»Das glaube ich eben nicht«, sagte Lily Chou. »Mr. Shotsky hat einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem steht, er hätte sie mit einem anderen Mann nackt ihm Bett erwischt. Man hat zwar … tut mir leid, aber es gehört dazu … man hat Sperma in ihr gefunden, das nicht von ihrem Mann stammte, sagt die Polizei. Aber wenn Mr. Shotsky es über sich gebracht hat, seine eigene Frau zu erschießen, wieso hat er dann nicht auch den Mann erschossen? Wieso hätte er ihn laufen lassen? Und wo ist dieser Mann?«
»Sie sollten Detektivin sein, Lily«, sagte Tim.
»Ich sollte Frau und Mutter sein, aber das bin ich nicht mehr.«
Obwohl Lilys Stimme bei diesen Worten zitterte, blieben ihr porzellanglattes Gesicht und ihre dunklen Augen ruhig.
Vielleicht war es der Kummer, der die Stille in diesem Haus so tief und dicht werden ließ. Was in der Atmosphäre noch mitschwang, war die stoische Akzeptanz eines unerbittlichen Schicksals.
Die steinernen Drachen hatten die Ohren aufgestellt, als lauschten sie auf die Schritte des Manns mit dem steinernen Blick.
46
Aus einer Wiese mit goldenem Gras ragten schwarze Bambusstämme auf. Dazwischen standen Kraniche mit schwarzen Beinen, Hälsen und Schnäbeln.
Der sechsflächige Paravent in Lily Chous Wohnzimmer wurde von Gold in unterschiedlichen Schattierungen beherrscht. Die schwarzen Elemente darauf sahen fast kalligraphisch aus. Dazu kamen die weiß gefiederten Körper der Kraniche, deren weiße Köpfe und ein Gefühl des Friedens.
»Aus Sicht der Polizei«, sagte Lily, »sind diese fünf Todesfälle nicht mal ein merkwürdiger Zufall. Einer von den Leuten dort hat zu mir gesagt: ›Da gibt’s keine Verschwörung, Mrs. Chou. So ist einfach das Leben.‹ Wie kommen die bloß auf
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