Blutwind
schmeichelhaften Foto einer Politikerin, auf die die Überschrift sich bezog. Lars holte seine Kreditkarte heraus und zog sie durch die Maschine.
»Ich bin hier eigentlich nur die Aushilfe«, erklärte der Junge. »Der Kiosk gehört dem Vater eines Klassenkameraden. Er stammt aus dem Iran. Ganz falsch lagen Sie also nicht.«
Lars öffnete eine Zigarettenschachtel und sah den jungen Mann fragend an. Der nickte, noch immer mit einem breiten Lächeln.
»Ist schon okay. Hier drin wird ständig geraucht.« Er zeigte mit dem Kopf auf den Hinterraum. Die schmachtenden Töne eines Streichinstruments, das Lars nicht kannte, ließen einen Perlenvorhang langsam hin und her schaukeln.
Er steckte sich eine King’s an und blies den Rauch durch die Nase.
»Ich bin gerade in Nummer 2 eingezogen.« Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »Wie lange habt ihr geöffnet?«
»Och, das wird zwölf, bevor wir schließen, jeden Tag. Aber ich bin nur ein paarmal die Woche hier. Ich muss ja auch noch zur Schule.«
Lars nickte. Zur Schule gehen war wichtig.
»War nett, mit dir geredet zu haben«, sagte er. »Bis bald.«
»Immer gerne.«
Lars trat aus dem Kiosk, als eine S -Bahn polternd in die Station einfuhr. Erst als der zischende Lärm sich gelegt hatte und er mit dem Schlüssel in der Hand vor dem Haus Nummer 2 stand, registrierte er das Geräusch.
Vielleicht gewöhnte er sich doch an die Gegend?
Juli 1944
Mit offenen Augen liegt sie unter dem Dach und wartet. Wartet auf das, was nachts angekrochen kommt. Die Treppe hinauf, zu ihr ins Bett. Die Sparren des alten Daches ächzen. Irgendwo klappert ein Fenster. Tiefe Dunkelheit umgibt sie, denn es herrscht Krieg in dieser Sommernacht, und innen wie außen wird verdunkelt. Vater und Mutter schlafen im ersten Stock. Über der Praxis.
Nichts bewegt sich in dem alten Haus. Nur ihre Brust hebt und senkt sich mit jedem Atemzug. Und tief unter ihrem Nabel strampelt dieses kleine Leben. Unter der rauen Decke, die durch das Nachthemd kratzt, streichelt sie mit einer Hand über die kleine Rundung ihres Bauches. Gern würde sie die Petroleumlampe anzünden, ein wenig lesen. Die letzte Nummer des Familie Journal liegt auf dem Nachttisch neben der Lampe und wartet; tagsüber hatte sie keine Zeit. Sie hat so viel zu tun. Die Schule und Vaters Patienten. Und am Abend muss sie kochen, den Abwasch erledigen, Vater die Pfeife stopfen. Und nun herrscht Krieg. Vor ihrem kleinen Dachfenster hängen keine Verdunklungsgardinen.
Hoch oben wird der Himmel von dem fürchterlichen Gebrüll der Flugzeugmotoren zerrissen. Ein eintöniges Brummen warnt vor dem Nahen des Todes. Sie versucht die Maschinen zu zählen, eins, drei, fünf … Nein, heute sind es zu viele. Sie fliegen über Gentofte nach Hause, haben ihre Last aus Tod und Verstümmelung über Berlin, Hamburg und Kiel abgeladen. Große Städte in Flammen. Mit Mädchen wie ihr, Frauen, Männern und Kindern. Dort verbrennen sie. Dort ist die Verdunklung vorbei.
Sie wartet auf das leise Knallen der Flakgeschütze. Es kann nicht mehr lange dauern.
Unter ihr dreht sich jemand im Bett, ein schwerer Körper. Sie zieht die Decke bis unters Kinn.
Puff, puff … puff, puff, puff. Von hier aus hört es sich beinahe freundlich an. Doch es gibt noch ein anderes Geräusch. Irgendetwas explodiert dort oben, stürzt durch die Nacht. Metall kreischt. Sie zieht die Decke ganz über den Kopf, aber in dieser Nacht helfen keine Decken. Das kreischende Heulen wird lauter und lauter. Dann scheint das Haus zu erbeben, nein, die Erde bebt. Der Schlag ist so gewaltig, dass die Welt verstummt. Alles ist vollkommen still.
Dann, nach und nach, beginnt die Welt wieder zu sprechen.
Die Treppe knarrt, die Dachsparren ächzen. Irgendwo dort draußen brennt etwas.
Jemand verlässt das Bett, zieht sich an. Geht die Treppe hinunter. Mutter ruft und flüstert gleichzeitig.
»Sei vorsichtig.«
Kurz darauf, sie weiß nicht, wie lange es gedauert hat, wird die Tür aufgestoßen. Er ruft, sie soll mit heißem Wasser und Tüchern kommen. Sie stürzt aus dem Bett, zieht ihre dünne Kittelschürze über das Nachthemd und geht mit bloßen Füßen vorsichtig die Treppe hinunter. Im ersten Stock ist Mutter aufgestanden. Das Nachthemd klebt an ihrer mageren Gestalt. Weiter nach unten. Im Erdgeschoss ist eine Petroleumlampe angezündet. Der flackernde Schein wirft tanzende Schatten auf Wände und Türen. Am Hauseingang bemerkt sie Blutflecken auf dem Boden. Polternde Füße,
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