Blutwind
us.«
Justine blickte auf.
»She is … all right?«
»She’s scared.« Sanne versuchte zu lächeln. »Aber ihr geht es den Umständen entsprechend gut. Willst du sie besuchen?«
Es war offensichtlich, dass sie es gern tun würde. Doch Justine schüttelte den Kopf. Die Mädchen auf der Straße wurden an der kurzen Leine gehalten. Sanne setzte sich neben sie.
»Wir haben gestern beide hier gestanden.« Justine zupfte an dem Träger, der sich über ihre nackte Schulter zog. »Ich hab ihr eine Kippe und einen Kaugummi gegeben. Dann ist sie wieder zu ihrer Ecke gegangen.« Sie zeigte zum Vesterbro Torv, Ecke Gasværksvej. »Kurz darauf hatte sie einen Kunden.«
»Kannst du dich erinnern, um welche Uhrzeit der Wagen hielt?«
»Ich hab bei Føtex auf die Uhr gesehen. Es war ungefähr zwölf.«
Sanne drehte sich um. Hinter ihnen, auf der anderen Seite der Vesterbrogade, erhob sich ein Betongiebel mit dem blau-weißen Logo des Warenhauses. Ganz oben leuchtete eine Uhr.
»Und das Auto?«
»Es war dunkel, schwarz oder dunkelblau. Vielleicht rot. Klein.«
»Hast du das Nummernschild gesehen?«
Justine schüttelte erst den Kopf, überlegte dann.
»Ich glaube … es endete mit 56 oder 59. Vielleicht mit einem C oder einem G ? Es tut mir leid, ich kann mich nicht erinnern …« Sie stand auf. Ihre Beine zitterten. »Ich muss … arbeiten.«
Sanne suchte ihren Blick.
»Wir können dir helfen … wir können dich von der Straße holen. Wenn du willst!«
Justine wandte sich ab, ging. Mitten auf dem Bürgersteig blieb sie stehen, suchte etwas in ihrer Tasche. Als sie sich wieder aufrichtete, hatte sie sich eine Zigarette angezündet.
»Sie lehnen immer ab.« Kasper schüttelte den Kopf.
»Wenn sie abhaut, schicken sie stattdessen ihre vierzehnjährige Schwester.« Sanne lehnte sich zurück. Ihre Glieder waren schwer. »Was soll sie machen?«
Justine trat an den Bordstein, stellte ein Bein vor das andere. Ihre hochhackigen Pumps klickten auf dem Pflaster. Das erste Auto blinkte und fuhr an den Bordstein.
*
Es knirscht und bebt in ihm. Die Kontinentalplatten verschieben sich. Bald kann man bis zum Urgrund sehen. Zwischen Fleisch und Sehnen steigt es auf, das Gebrüll. Zerfetzt Gewebe und Knochenreste mit einer brutalen, zerfleischenden Kraft. Nervenenden flattern im Blutwind. Draußen ist alles erledigt. Doch drinnen regiert das brüllende Chaos. Die Ursuppe. Er taumelt die Treppe hinunter, er hat hier so lange gewohnt, dass die beiden Häuser – das Haus der Seele aus Fleisch und Knochen und das Haus des Körpers aus Stein und Holz – eins geworden sind. Sein Blut pulsiert durch die Rohre, die Treppen und Dachsparren bestehen aus seiner Knochenstruktur. Der Sicherungskasten und das sinnreiche Netz der Stromkabel sind seine Nervenbahnen. Mutter hat unterm Dach gelegen und all das Verbotene herausgeschrien, das Großvater ihr angetan hat: dass der Vater nicht der Vater ist. Es platzte aus ihr heraus. Die langen Monate allein im Keller, bis er geboren war. Und danach. Warum konnte sie nicht einfach sterben? Sie war schwach, und nun ist sie fort. Er ist stark. Es gibt nur ihn, Sonja und Hilda. Aber tief in seinem Inneren herrscht Unruhe, Aufruhr. Es ist nicht nur der Riss. Es wehrt sich und zerrt, es versucht sich loszureißen und aufzusteigen. Er stürzt durch die Küche, die Treppe hinunter in den Keller, reißt die heimliche Tür auf. Gott sei Dank. Sie sitzen noch da, auf dem Stuhl und im Sofa vor dem Fernseher. Sie warten auf ihn.
Ihr wolltet mir mit eurem Leuchten sagen:
Wir möchten nah dir bleiben gerne!
Sie ist entkommen. Er versucht, sie zu verfolgen – oder hat er es versucht? Der Körper und das Haus sind nicht ohne Weiteres zu trennen. Er kann nicht heraus. Die Tür ist verschlossen. Ihr kleines Heim ist erschüttert. Sonja und Hilda hatten sich auch gefreut. Dass die Familie wieder vollzählig ist. Und jetzt ist sie auf und davon. Die Ursuppe schwappt über. Er erbricht sich in einer Ecke. Es kommen nur grünlicher Schleim und fette Galle, sie tropft auf den Boden über seine Schuhe. An einer der Munitionskisten muss er sich abstützen. Aber was ist das? Lachen sie über ihn? Sitzen sie da und halten ihn zum Besten? Der Blutwind tobt. Er läuft zum Reisegrammophon, setzt die Nadel in die Rille. Es kratzt in dem eingebauten Lautsprecher. Er atmet tief durch. Das ruhige Vorspiel setzt ein, dann wächst Agnes Baltsas Mezzosopran aus der Begleitung und erhebt sich über die dunklen
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