Blutzeichen
offen halten. Es ist sechs Uhr am Montagmorgen und seit Freitagabend hat er gerade mal vier Stunden auf dem Parkplatz eines Besucherzentrums am Mount Airy, North Carolina, geschlafen.
Er biegt bei der ersten Gelegenheit links in den Pondside Drive ab, eine Wohnstraße, in der so viele Bäume stehen, dass er durch die Windschutzscheibe nur kleine Ausschnitte des leuchtend roten Himmels sieht.
Am Ende der Straße fährt er in die Cattail Street, die nach einer Viertelmeile in einer schattigen Sackgasse mündet. Der aufgebrochene Straßenbelag liegt unter einer Schicht dunkelroter Blätter verborgen.
Luther schaltet den Motor aus und klettert auf den Rücksitz.
Als er auf dem kalten, klebrigen Vinylbezug liegt, holt er den Kassettenrekorder hervor, drückt auf Wiedergabe und schlummert sanft ein, während Mr Worthington um das Leben seiner Familie fleht.
Als er die Augen öffnet, ist es 11.15 Uhr. Das kristalline Licht der Oktobersonne durchflutet den Chevrolet und der Vinylbezug an seiner Wange fühlt sich jetzt so warm an wie eine Wärmflasche.
In Statesville biegt er auf den Highway 64 und fährt am Fuße der Berge North Carolinas entlang, durch die eintönigen Städte Mocksville, Lexington, Asheboro und Siler City nach Osten.
Der Himmel dehnt sich zu einem endlosen, blendenden Blau aus.
In der Nähe von Pittsboro führt die 64 über den gewaltigen Jordan-See, dessen Ufer im leuchtenden Herbstlaub erglüht. Luther kann sich nicht daran erinnern, je so fröhlich gewesen zu sein.
Mitten am Nachmittag ist er wieder hungrig.
In einem Waffelhaus in Rocky Mount, North Carolina, bestellt er sein neues Lieblingsgericht: Hashbrown-Spezial, dazu eine Vanilla Coke. Durch das Fenster blickt er auf ein braungelbes Feld, auf dem die Blätter der Sojabohnenpflanzen golden erstrahlen.
Plötzlich während des Mittagessens dämmert es ihm.
Er war bei den Worthingtons unachtsam gewesen.
Er hat etwas liegen lassen.
16. Kapitel
Beim Aufwachen dachte Beth, sie wäre tot und zur Hölle hinabgefahren, doch dies war nicht die Hölle, die sie erwartet hatte. Ihre Vorstellung von der Hölle entsprang einem Gemälde, das sie erst vor kurzem im Kunstmuseum von North Carolina gesehen hatte.
Das Ölgemälde auf Holzfaserplatte von 1959 trug den Titel Apokalyptische Ansicht mit Philosophen und historischen Figuren und war von einem Pfarrer namens McKendree Robbins gemalt worden.
Das Gemälde stellte einen höhlenartigen Raum dar, in dem eine Legion hoffnungsloser Seelen von Dämonen zum obligatorischen Feuersee getrieben wurde. Unter den Philosophen und historischen Figuren sah man die Gesichter von Einstein, Freud, Hitler, Stalin und Marx. Andere klammerten sich verzweifelt an das felsige Ufer, festlich gekleidet, als kämen sie direkt von einem vornehmen Ball. Eine ganze Gruppe nackter Männer und Frauen fielen von der Decke in den brennenden See, und in unerreichbarer Entfernung, aber für alle sichtbar, schwebten zwei leuchtende Engel über einem weißen Kreuz – eine immerwährende, quälende Erinnerung an die Liebe, die die Verdammten mit Füßen getreten hatten.
Meine Hölle ist schlimmer, dachte Beth, weil sie real ist.
Ihr Kopf schmerzte fürchterlich in dieser leeren Dunkelheit und sie konnte sich nicht erinnern, was passiert war. Die Gesichter von Jenna und John David blitzten in ihrem Kopf auf, doch als sie versuchte, sich die Bilder von den Kindern und sich selbst am Steg ins Gedächtnis zu rufen, fielen die Bilder auseinander und ließen sich nicht mehr zusammensetzen.
Plötzlich setzte sie sich auf, schlug mit ihrer Stirn gegen das Dämmmaterial und fiel zurück auf eine reglose Hand.
»Wer ist da?«, schrie sie auf.
Keine Antwort.
Sie tastete in der Dunkelheit nach der Hand und drückte sie.
»Können Sie mich hören?«, flüsterte sie und dachte: Wenn es eine Leiche ist, werde ich verrückt.
Eine schläfrige, weibliche Stimme murmelte etwas, keuchte und wich vor Beth zurück.
»Ich heiße Beth. Und Sie?«
Eine krächzende Stimme antwortete: »Karen.« Es klang, als ob sie mit zusammengebissenen Zähnen sprach.
»Ist das die Hölle?«, fragte Beth flüsternd.
»Es ist der Kofferraum vom Wagen dieses Psychopathen.«
Mit einem Schlag kam ihre ganze Erinnerung zurück.
»Wo sind meine Kinder?«, fragte Beth.
»Ihre Kinder?«
»Hat er ihnen was angetan?«
»Ich weiß es nicht.«
Beth weinte jetzt und versuchte, ihre Angst zu unterdrücken und sie in die gefühllose Nische zu verbannen, die sie
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