Blutzeichen
ganzen kleinen Körper entlang. Es gab keine sichtbaren Würgespuren oder Blutergüsse, doch der Kopf lag merkwürdig da.
Gebrochenes Genick.
Der Strahl der Taschenlampe wanderte langsam seinen rechten Arm hinab und verharrte auf der Hand, die zu einer festen Faust geballt war. Sie ließ den Strahl zu seiner anderen Hand gleiten. Die Finger waren locker und hielten etwas fest, was aussah wie eine Batterie.
Vi ging zur hinteren Tür, starrte durch die Glasscheibe hinaus in den vom Mond erhellten Garten und registrierte die Eiche, das Baumhaus, die Schaukel, den Steg und den See. Nachdem sie die Taschenlampe ausgeschaltet hatte, ging sie durch das Esszimmer ins Wohnzimmer. Ihre Augen hatten sich inzwischen an die Schatten gewöhnt. Sie hätte das Licht einschalten können, aber sie musste das Haus so vorfinden, wie er es vorgefunden hatte.
Im Wohnzimmer wurde der Gestank stärker. Sie blieb stehen und sah hinab auf eine auf dem Boden stehende Schüssel Popcorn. Auf dem Fernseher lag eine leere Videohülle. Fernsehabend. Sie ging hinüber und schaute sich den Titel an: Where the Red Fern Grows.
Als das Telefon klingelte, hielt Vi kurz die Luft an.
Nach zweimaligem Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein: »Hallo, hier ist Theresa.«
»Und Zach.«
»Hank!«
»Und Ben!«
Familiengelächter.
Eine Jungenstimme fuhr fort: »Wir sind nicht zu Hause, aber wenn ihr wollt, hinterlasst doch eine Nachricht.«
Nach dem Piepton: »Hallo, ihr alle. Ich bin’s, Janet. Hab noch nichts von euch wegen nächstem Wochenende gehört und ruf nur an, um euch daran zu erinnern. Ich hoffe wirklich, ihr könnt kommen. Viele Grüße von Jack und Susie. Bis bald.«
Erneut Stille.
Vom Flur aus blickte Vi ins Badezimmer und ging dann weiter bis zur Zimmertür des älteren Sohns. Hank lag unter seiner Decke im Bett. Er sah aus, als schliefe er, und sie dachte: Dieses Haus wäre so normal, wenn man nicht den Tod riechen könnte.
Am Ende des Flurs stand die Tür zu Zachs und Theresas Schlafzimmer sperrangelweit offen. Vi näherte sich so vorsichtig, als könnte sie sie wecken. Ihr Puls raste, das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Weder verleugnete sie noch verfluchte sie die Angst. Vi kauerte sich hin und betete: Herr, ich spüre dich nicht in diesem Haus. Geh mit mir in dieses Schlafzimmer. Sie stand auf, fühlte sich immer noch genauso einsam, ging jedoch weiter, bis sie auf der Schwelle zum Elternschlafzimmer stand. Der Gestank ließ ihre Augen tränen.
Vi kannte keine Tricks, um sich dagegen zu wappnen, geraubter Unschuld ins Auge zu blicken. Es presste einem die Luft aus dem Körper, danach machte man entweder weiter oder man kündigte. Das hatte ihr Sergeant Mullins zu Anfang mal gesagt. Und er hatte Recht gehabt.
Mit ihrem Bleistiftende bediente sie den Lichtschalter.
Es war, als ob der Raum gellend aufschrie. Ihr entfuhr ein schwaches Wimmern und ihr Magen zog sich zusammen, als sie drei Schritte nach vorn ging und das Schlimmste direkt vor Augen hatte.
Mr und Mrs Worthington starrten sie an, dem letzten Rest ihrer Würde beraubt.
Vi kritzelte auf ihren Notizblock, froh über einen Grund, wegzusehen.
Als sie fertig war, ging sie durch den Flur zurück zur Eingangshalle und öffnete die Haustür.
Es war ein gutes Gefühl, wieder frische Luft zu atmen. Am liebsten hätte sie eine Stunde lang ihre Hände gewaschen.
Während sie auf die Veranda trat und die Tür hinter sich zuzog, spürte sie, wie Sergeant Mullins und die Leute von der Spurensicherung sie anstarrten, die Abscheu in ihrem Gesicht wahrnahmen und diese, jeder für sich, interpretierten.
»Die Eltern sind aufgeschlitzt worden«, erklärte sie allen. »Vielleicht eine Art Ritualmord. Und der Junge unter dem Tisch hält etwas in seiner rechten Hand.«
Einer der Ermittlungsbeamten meinte: »Sie wissen, dass Andrew Thomas auf der gegenüberliegenden Seeseite gewohnt hat. Ich wette um zehn Bier, dass er es war. Sein Comeback nach der Zeit des Versteckens. Und das wollte er mit einem Paukenschlag tun.«
Als Vi über den Bürgersteig auf den Rasen ging, sah sie den Wagen des lokalen Nachrichtensenders am Ende der Sackgasse parken.
Der Streifenpolizist stand auf der Straße und hatte seinen Arm um Brenda Moorefield gelegt. Als Vi auf sie zuging, fror sie wieder und rief ihren Mann an, dass er nicht länger auf sie warten sollte.
23. Kapitel
An dem Tag, an dem er Andrew Thomas interviewen wollte, erwachte Horace Boone in der eisigen, erbarmungslosen
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