Blutzeichen
kalten Metall der Pistole und versuchte, mir meinen Verfolgungswahn auszureden. Er hat keinen Verdacht. Er benimmt sich merkwürdig, weil er merkwürdig ist. Die Welt ist voller merkwürdiger Leute. Mehr nicht. Er weiß nicht, wer ich bin.
»Der Grund, warum ich verreisen gesagt habe, wissen Sie«, fuhr er fort, »ist nur, weil ich sehe, dass Sie da drüben einen Koffer auf das, ähm, das Ding da drüben.«
»Ja, ich fahre für eine Weile weg.«
»Nun gut. Dann, ähm, werde ich es Julie sagen.«
Er konnte sich nicht beherrschen. Zum dritten Mal starrte er auf den Artikel.
»Warum nehmen Sie ihn nicht mit?«, fragte ich. »Ich hab ihn durch. Verrückte Geschichte, was?«
»Ja. Es ist… wow! Nun, also, ich richte es Julie aus.« Er nahm den Artikel und sagte: »Entschuldigen Sie vielmals, dass ich Sie gestört habe.«
Als Horace an mir vorbeiging und die Vordertür öffnete, wurde mir klar, wie paranoid ich geworden war. Er trat hinaus in die nachmittägliche Dunkelheit, während ich in der Tür stehen blieb und zusah, wie er in seinen Land Cruiser stieg und die Zufahrt zurückfuhr. Das Motorengeräusch verebbte schon bald in der Waldesstille und außer dem Flüstern des Windes in den Kiefern war nichts mehr zu hören.
Ich ging wieder hinein, um zu Ende zu packen, und meine Gedanken kreisten wieder um Luther Kite und wie ich ihn in dieser weiten, weiten Welt finden würde.
Als Horace Boone durch die kalte Dunkelheit des Yukon zurückfuhr, hatte er Mühe, seine Freude im Zaum zu halten. Da er Andrew Thomas’ Manuskript »Bruderherz« gelesen hatte, wusste er genau, was gerade vor sich ging: Vorausgesetzt, Andrew erzählte die Wahrheit, dann hatte Luther Kite in der Wüste überlebt und richtete nun neue Verwüstungen an, weshalb Andrew sich auf den Weg machte, um ihn aufzuspüren. Auch wenn es all seine Ersparnisse aufbrauchen würde, Horace musste ihm folgen.
Von einer besseren Story konnte ein Schriftsteller gar nicht träumen.
Ich lag wach in meinem Bett, schlaflose Stunden flossen dahin. Mein Koffer lag bereits gepackt im Jeep, am nächsten Morgen musste ich nur noch nach draußen gehen, mich hinters Lenkrad setzen und davonfahren. Whitehorse, Yukon, lag 158 Kilometer weiter östlich. Von dort würde ich nach Vancouver fliegen und von Vancouver weiter nach Amerika. In einem Schließfach in Lander, Wyoming, lagen Dinge, die mir vielleicht helfen würden, Luther Kite zu finden – die Tagebücher meines Bruders, die seine Gedichte, Fotos und sogar einen Bericht über seine und Luthers Taten enthielten. Nachdem ich vor sieben Jahren aus Orsons Hütte geflohen war, hatte ich all das in einem Schließfach verstaut, weil einiges davon mich selbst belastete.
Nun hatte ich eine bohrende Ahnung in mir, die etwas mit Luther zu tun hatte und damit, wie ich ihn finden konnte. Ich meinte, irgendwo in Orsons Tagebüchern gelesen zu haben, dass er auf einer Insel aufgewachsen war.
In der Ferne knackte etwas. Ich kannte dieses Geräusch.
Im ersten Herbst im Yukon war ich eines Nachts wegen eines geheimnisvollen Knackens im Wald steif vor Angst hochgeschreckt. Da ich nicht mehr hatte einschlafen können, hatte ich mich angezogen und war durch die Bäume bis zu einem zugefrorenen Teich geschlichen, an dem ein Elchbulle mit seinen Hufen auf das Eis stampfte. Ich hatte beobachtet, wie es ihm schließlich gelungen war, die Eisdecke zu zerstoßen, und wie er seine Schnauze in das eisige Wasser getaucht hatte, um zu saufen.
Als ich dieses Geräusch nun wieder hörte, empfand ich es als Abschiedsgruß und es drohte mich völlig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Doch heute Nacht würde ich nicht noch mehr heulen. Ich hatte mich leer geweint und befand mich nun in einer Art Schockzustand – geschockt, dass ich freiwillig meinen Hafen verließ und wieder in Richtung Wahnsinn segelte. Es war die Unsicherheit, die mich verfolgte – hauptsächlich wegen Beth Lancing, aber auch ganz egoistisch wegen mir –, während ich im Bett lag und die Schatten des Kaminfeuers beobachtete, die auf dem Dachgebälk meines mir lieb gewordenen Zuhauses tanzten. Ich konnte es nicht fassen, dass ich diesen Ort niemals Wiedersehen würde.
25. Kapitel
In den frühen Morgenstunden des Freitags fuhr Vi die Auffahrt zu ihrem neuen Heim hinauf und schaltete den Motor aus. Das letzte Fenster auf der linken Seite stach leuchtend aus der Fassade heraus, und durch die halb heruntergelassenen Jalousien konnte sie erkennen, dass ihr Mann
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