Blutzeichen
gerade aufstand. Sie stieg aus, schlug die Tür zu und setzte sich auf die hintere Stoßstange des Cherokee. Sie sah auf die Uhr. Es war eine Minute vor fünf, was bedeutete, dass sie nun seit sechsundvierzig Stunden auf den Beinen war.
Die Morgendämmerung stand kurz bevor. Vi blickte über die baumlose Abgrenzung, still und friedlich. Das Dröhnen der Interstate, die versteckt hinter silbrigen Kiefern nur eine Viertelmeile entfernt lag, drang vom anderen Ende des Feldes bis zu ihr herüber. Hier in Arcadia Acres schwieg die Interstate nie. Doch sie liebte dieses unterschwellige Geräusch, sie empfand es als beruhigend. Und sie mochte die Normalität ihrer Nachbarschaft. Wenn Vi die Briar Lane hinabblickte, war es für sie keine Straße voller seelenloser, eintöniger kleiner Fertighäuser. Sie sah, dass sie und Max ein anständiges Leben führten. Da Vi ohne Anspruchsdenken aufgewachsen war, sehnte sie sich nur nach einfachen Dingen – einer Familie, einem behaglichen Heim, gelegentlichen Urlaubsreisen nach Gatlinburg und Myrtle Beach und nach Anerkennung in ihrer Gemeinde, in ihrer Kirche und auf ihrem Kommissariat.
In der kalten, nebeligen Stille der Arcadia Acres meditierte sie über die Gnade in ihrem Leben. Nach dem Schauplatz des Verbrechens, den sie gerade in Augenschein genommen hatte, brauchte sie das hier als stabilisierenden Trost.
Auf dem Weg zur Haustür rief sie sich noch einmal das gebrochene Genick von Ben und Hank Worthington, die Verstümmelung der Eltern und den Schock von Jenna Lancing ins Gedächtnis, dann packte sie diese Bilder in einen gefühlsleeren Speicher, den sie sich weit hinten in ihrem Kopf geschaffen hatte. Das fiel ihr am schwersten – nach fünfunddreißig Stunden in der Hölle jetzt in ihr warmes, friedliches Zuhause einzutauchen. Vi fand war es unerträglich, dass es derartige Missverhältnisse gab, und sie fragte sich: Was von beidem ist die Illusion?
Als sie eintrat, stand ihr Mann in Unterhosen in der Eingangshalle. Der Duft frisch gemahlener Kaffeebohnen umwehte sie, und nachdem die Tür geschlossen war, kam Max mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, um sie zu umarmen. Vi legte eine Hand auf seine Brust und schüttelte den Kopf.
»Es ist schon in sämtlichen Nachrichten«, sagte er.
Sie ging an ihm vorbei und bog links in den Flur ab, der noch immer mit ungeöffneten Kisten zugestellt war.
»Willst du nicht darüber reden, Liebling?«, rief er hinter ihr her.
Als sie das Schlafzimmer erreicht hatte, stellte sie ihre Tasche auf der Kommode ab und setzte sich auf die Kante des riesigen Wasserbettes, das beinah das gesamte Schlafzimmer einnahm.
Sie schloss die Augen. Sie hätte aufrecht sitzend einschlafen können.
Als sie die Augen wieder öffnete, kniete Max vor ihr. Er streifte ihr die Schuhe ab und massierte ihre Füße. Dann knöpfte er ihre lavendelfarbene Jacke auf, hielt sie an den Ärmeln fest und sagte: »Streck deine Arme aus.« Vi schloss die Augen und breitete die Arme aus. Max warf ihre Jacke in eine Ecke, und während er noch mit den Knöpfen ihrer Bluse beschäftigt war, döste sie kurz weg. Er bat sie, die Arme erneut auszustrecken und dann aufzustehen. Max öffnete den Reißverschluss und den Haken ihres Rockes und ließ ihn auf den Boden fallen. Er zog ihre Strumpfhose herunter und streifte sie über ihre kleinen Füße. Aus seiner Hemdenschublade zog Max ein hellgraues T-Shirt vom Langstreckenlauf in Mooresville hervor, dann öffnete er den Verschluss des Büstenhalters und warf ihn auf den Kleiderstapel auf der anderen Seite des Zimmers.
»Arme hoch.«
Er ließ das T-Shirt über ihren Kopf gleiten. Dann schlug er die Tagesdecke zurück und half ihren Beinen, den Weg unter die Bettdecke zu finden. Da sie ihre Beine zwei Tage nicht rasiert hatte, fühlten sie sich ein kleines bisschen rau an, so wie ultrafeines Schmirgelpapier.
»Durstig, mein Engel? Brauchst du irgendwas?«
»Nein«, flüsterte sie im Halbschlaf.
»Warum willst du nicht mit mir darüber reden?«
»Weil ich so müde bin, dass ich schon nicht mehr denken kann, Max. Lass es.«
Max saß auf der Bettkante und strich ihr übers Haar, während sie einschlief.
Als Vi erwachte, war es bereits wieder dunkel. Ihre Augen erblickten das hölzerne Kreuz an der Wand neben der Tür. Es war der einzige Schmuck, den sie aufgehangen hatten, seit sie vor einer Woche in das Haus gezogen waren. Ihr Vater hatte es aus einem Eichenast geschnitzt und ihr Weihnachten vor drei Jahren
Weitere Kostenlose Bücher