Blutzeichen
Achterdeck. Es war merklich kühler geworden, der Himmel hatte sich aufgeklart und der Mond schien über dem Hafen.
Sam streckte eine Hand aus und Vi ergriff sie. Er half ihr auf den Steg.
»Vielen Dank, Sir«, sagte sie. »Ich weiß, dass Sie meinetwegen große Umstände hatten, und ich hoffe, dass es Gloria besser geht.« Sam rollte nur mit den Augen und ging zurück in den Salon.
Als Vi den Steg entlanglief, hörte sie, wie die Dieselmotoren wieder ansprangen. Als sie über die Schulter blickte, sah sie, wie die Yacht den Hafen verließ.
Vi erreichte den Silver Lake Drive und blieb stehen.
Sam hatte sie in der Nähe der verlassenen Küstenwachstation und der Fähranlegestelle abgesetzt. Die Lichter von Ocracoke schienen herüber und spiegelten sich im Wasser des Hafenbeckens – eine kalte, glitzernde Stille. Es war Mitternacht und sie hatte keinen Schlüssel zu ihrem Zimmer im Harper Castle.
Die Küstenwache war vollkommen dunkel.
Ich muss einfach jemanden aufwecken.
Sie wäre am liebsten gerannt, aber sie konnte nur noch mühsam gehen, da ihre Beine vom schnellen Lauf über das Watt immer noch brannten. Während sie die gelbe Doppellinie entlangging, dachte sie an Andrew Thomas und fragte sich, ob er noch lebte, wenn sie ihn das nächste Mal sehen würde.
Sie war überglücklich, wieder auf Ocracoke zu sein. Die Sicherheit war spürbar. Sie fühlte, dass sämtliche siebenhundert Einwohner um sie herum schliefen.
Sie begann Dankesgebete zu sprechen.
Von hinten näherte sich ein Auto.
Sie trat zurück an den Straßenrand und beobachtete, wie ein alter Pick-up langsam näher kam. Er fuhr zu ihr an die Seite und kam quietschend zum Stehen.
Das Beifahrerfenster wurde heruntergekurbelt und Rufus Kite beugte sich vom Fahrersitz hinaus. Seine Augen wirkten in der Dunkelheit so hohl wie ölig schwarz glänzende Pfützen.
»Miss King? Gott sei Dank!«
»Was machen Sie – «
»Oh, Gott sei Dank! Alle suchen nach Ihnen.«
»Wer sucht nach mir?«
»Jemand hat Sie zusammen mit Andrew Thomas im Howard’s Pub gesehen. Seither suchen alle nach Ihnen. Kommen Sie, steigen Sie ein.«
Die Beifahrertür wurde geöffnet.
»Ich nehme Sie mit zum Haus«, sagte er. »Wir säubern Sie und dann, denke ich, haben Sie einige wichtige Telefonate zu erledigen.«
»Nun, ja, stimmt, aber… nein, ich denke, ich gehe einfach rüber ins Silver Lake.« Sie wies die Straße hinab auf ein zweistöckiges Hotel direkt am Ufer. »Ich werde notfalls jemanden aufwecken, aber ich möchte Ihnen keine Umstände – «
»Macht überhaupt keine Umstände. Hüpfen Sie rein. Abgesehen davon glaube ich nicht, dass dort jemand ist, Miss King.«
Ein merkwürdiger Ton in seiner Stimme. Äußerst insistierend.
Im hinteren Teil des Trucks raschelte etwas.
»Schauen Sie, ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, aber – «
Maxine Kite setzte sich auf der Ladefläche auf und kletterte, einen Holzhammer schwingend, nach vorn. Vi wich zurück und wollte gerade davonrennen, als ihr Maxine auf den Schädel schlug.
Vi ging in die Knie und fiel mit der Wange auf das kalte Pflaster. Blut rann ihr übers Augenlid, über den Nasenrücken, über die Lippe, zwischen die Zähne. Sie hörte eine Tür aufgehen, sah Rufus auf der anderen Seite des Trucks auf die Straße treten, beobachtete, wie seine Stiefel auf sie zukamen, und überlegte, ob die pochende Schläfrigkeit im Genick bedeutete, dass sie jetzt sterben würde.
Vi rollte sich auf den Rücken.
Schluckte Blut.
Warme, rostige Flüssigkeit.
Die spirreligen Zweige einer immergrünen Eiche hingen über die Straße. Zwischen den Ästen leuchteten einzelne Ausschnitte des Nachthimmels hindurch – wolkenlos, schwarz, voller Sterne.
Rufus und Maxine standen Arm in Arm nebeneinander und grinsten auf sie herab.
Ein Walkie-Talkie gab krächzende Geräusche von sich.
Rufus zog es aus der Gesäßtasche, drückte den Sprech-Knopf und sagte: »Ja, Sohn, wir haben sie. Wir sehen dich dann im Haus.«
Vis Hirn befahl ihrem Arm, den Reißverschluss ihres Ponchos zu öffnen und die Waffe herauszuholen, doch dann fiel ihr ein, dass sie gar keine Waffe mehr besaß, außerdem rührte sich ihr Arm nicht.
»Na, das nenne ich einen guten Schlag«, sagte Rufus und kicherte. Der alte Mann küsste seine Frau auf die Wange und beugte sich, heute erstaunlich beweglich, zu Vi herab.
»Ihre Lippen bewegen sich noch«, erklärte er. »Los, meine Hübsche, versetz ihr noch einen Schlag!«
Liebes und Schatz
Dein
Weitere Kostenlose Bücher