Blutzeichen
verlassen. Hätte Horace beim Steg gewartet, könnte er ihnen jetzt weiter auf den Fersen sein. Stattdessen war er Tausende Meilen gereist, nur um Andrew auf einer kleinen Insel vor der Küste North Carolinas für immer zu verlieren. Er hatte sich die Geschichte seines Lebens einfach aus der Hand gleiten lassen. Um Luther Kite zu verfolgen, hatte sich Andrew längst in eine andere Geschichte aufgemacht, die Horace nie erzählen würde.
Keine Frage, er hatte die Party verpasst.
Horace stellte den Kaffeebecher auf dem kleinen Tisch ab und nahm sein lila Notizbuch zur Hand, das die ersten vier Kapitel seines Buches über Andrew Thomas enthielt. Er brachte es an diesem Morgen nicht über sich, über Andrew zu schreiben. Während er die Seiten durchblätterte, spürte er noch einmal die Aufregung, Andrew aufgespürt, vor seiner Hütte in Haines Junction gestanden und dem Meister beim Schreiben zugesehen zu haben. Einen Monat lang hatte Horace Hoffnung verspürt.
Als er aufstand, realisierte er, dass dies vermutlich sein letzter Vormittag auf Ocracoke sein würde. Doch er wollte ihn nicht auf die Art verschwenden, wie er bereits die letzten drei Tage verschwendet hatte, und wieder ziellos über die Insel fahren und nach Andys Audi und dem blauen Jeep Cherokee Ausschau halten. Heute würde er eine letzte Sache versuchen, und falls sich diese auch als unsinnig herausstellen sollte (wovon er ausging), würde er zurück nach Alaska fliegen, seine Eltern um etwas Geld bitten und nie wieder etwas Unüberlegtes und Dummes tun.
51. Kapitel
Beth und Violet bewegten sich, als unsere vierte Lichtperiode begann.
Das Licht drang durch eine Ritze im Stein und fiel schräg durch die Dunkelheit – ein staubiger Tageslichtstrahl, der eine Stunde lang unsere unglücklichen Gesichter beleuchtete.
Wir saßen uns in einem kalten, gemauerten Raum gegenüber, an den Handgelenken mit Handschellen gefesselt und an einen eisernen D-Ring gekettet, der in dem felsigen Boden unter unseren Füßen verankert war. Eine Tür führte zu einem dunklen Gang, aus dem, wie es uns vorkam, seit Tagen ununterbrochen beunruhigende, hämmernde und bohrende Geräusche zu uns drangen.
Ich hob meinen Kopf.
Im Zwielicht konnte ich erkennen, dass die Frauen ebenfalls bei Bewusstsein waren.
Neben Violet tröpfelte Wasser den Stein hinab.
Zu meinen Füßen krabbelten zwei Kakerlaken durch den ovalen Fleck des Tageslichts.
Angespanntes und hoffnungsloses Schweigen lastete auf uns.
Beth schluchzte leise, wie stets, sobald das Licht hereinschien.
Violet saß reglos da. Das Blut, das von ihrem Schädel über ihre linke Gesichtshälfte gelaufen war, war längst angetrocknet.
Es gab nichts, was einer von uns hätte sagen können.
Wir starrten einander nur an, drei Seelen in der Hölle, die darauf warteten, dass die Dunkelheit wieder über sie kam.
52. Kapitel
Luther bohrte das letzte Loch in die Armhalterung. Rufus schraubte den Lederstreifen an das vordere Stuhlbein, der das Sprunggelenk halten sollte. Da der Stuhl aus Eichenholz war, musste sich der alte Mann auf seinen Akkubohrer lehnen, um die Schraube im Holz zu versenken.
»Sieht gut aus, Jungs.«
Maxine stand mit je einem Glas Limonade in jeder Hand im engen, in den Stein gehauenen Türrahmen, während das Licht der einzigen Glühbirne die tiefen Falten ihres Gesichts noch betonte. »Mein Herz gehört Jesus«, stand in Strasssteinen auf ihrem leuchtend lila Sweatshirt.
Vater und Sohn legten ihr Werkzeug auf den Lehmboden. Rufus stöhnte, als er sich auf die Beine kämpfte. Er ging zu Maxine hinüber, beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn. Ihre großen, schwarzen, alterslosen Augen funkelten.
»Danke, mein Liebes«, sagte Rufus, nahm ihr die Limonadengläser ab, ging zu seinem Sohn und ließ sich neben ihm nieder.
Beide lehnten ihren Rücken gegen den kalten Stein und tranken.
Maxine betrat den kleinen Raum und setzte sich auf den Stuhl.
Sie legte ihre Unterarme auf die Armstützen und schaute ihre beiden Jungs an.
»Zzzzzzzz!«
Die alte Frau schüttelte sich heftig und lachte.
»Wunderbar! Wenn du den Stuhl auseinander rüttelst, binden wir dich wirklich daran fest.«
Luther trank seine Limonade aus und stellte das Glas ab.
»Was gibt’s zum Abendessen, Mama?«
Maxine stand auf, ging zu ihrem Sohn und nahm sein Gesicht in ihre Hände.
»Was immer mein lieber Junge möchte. Worauf hast du Lust?«
»Gekochte Schrimps.«
»Hilfst du mir, sie zu
Weitere Kostenlose Bücher