Boardwalk Empire
Dosis an unberührter Natur verabreicht, als ihnen die Broschüren versprochen hatten. Die Insel war voller Tümpel, in denen sich die Insekten wie wild vermehrten. Das Begrüßungskomitee bestand aus Schwärmen von Stechfliegen und Moskitos.
Im Sommer 1858 kam es zu einer Insektenplage, die beinahe zur Schließung des Seebads geführt hätte. Grünköpfige Stechfliegen, Mücken und Moskitos quälten die Besucher einen ganzen Sommer lang, und Mitte August war die Stadt wie leer gefegt.
In meinem letzten Brief hatte ich noch erwähnt, dass es hier viele Insekten gibt. Jetzt ist eine Insektenplage daraus geworden. Man kann hier keinen Frieden finden. […] Letzte Woche war noch alles voller Leute, jetzt entfleuchen sie diesem Elend so schnell sie nur können. Rund um unser Haus brennen zahlreiche kleine Feuer, in der Hoffnung, den Feind auszuräuchern. Die Pferde der Kutschen des United-States-Hotels haben die Moskitos so wild gemacht, dass sie sich losrissen, dabei die Kutschen beschädigten und sogar einer Frau den Arm brachen. 7
So schrieb ein Besucher seiner Familie. Ganz offensichtlich bekam Atlantic City dieses Problem nicht in den Griff. Der Sommer war ein Albtraum. Es gab Erzählungen von blutverschmierten Pferden, die auf der Straße lagen, und Vieh, das ins Meer hinauswanderte, um den Insekten zu entkommen. Frauen, Kinder, Männer, alle schrien und kratzten sich wie verrückt. Viele Besucher flehten die Schaffner an, sie mögen sie doch bitte vorzeitig zurückzubringen. Die folgenden fünfzehn Jahre goss man Kohlenöl auf die zahlreichen Feuchtgebiete und rottete die Insekten aus. Aber erst als man die Dünen einebnete und die Tümpel mit Sand auffüllte, war das Problem bewältigt.
Anfangs gab es nur zwei Fluchtmöglichkeiten vor den Insekten: Entweder man ging ins Meer, oder man versteckte sich in einem der Badehäuser. Das waren grobe Holzverschläge, die im Frühling runter ans Wasser und im Herbst wieder nach oben getragen wurden. Es war ohnehin schwierig, den wilden Teil des Strands von der Siedlung abzutrennen. Überall lag Sand, und bei starker Flut überschwemmte das Wasser die Straßen. Meerwasser war im Überfluss da, aber man konnte es nicht trinken. In den ersten dreißig Jahren gewann Atlantic City sein Wasser in Zisternen. Getreu den landwirtschaftlichen Ursprüngen der Stadt »liefen bis 1864 die Rinder, Schweine und Ziegen frei herum. Damals gehörte jedem Einwohner mindestens eine Kuh« 8 , heißt es in einem Bericht. Die Hauptstraße von Atlantic City, die Atlantic Avenue, war bisher zunächst nur ein Trampelpfad, auf dem die Bauern ihre Kühe über die Insel trieben. Morgens trotteten die Kuhherden tagsüber von einem Ende der Stadt ans andere und abends wieder zurück.
Die finanziellen Mittel für die Stadtentwicklung aufzutreiben, gestaltete sich deutlich schwieriger, als Investoren für die Eisenbahnstrecke zu finden. Die hatten bekommen, was sie wollten, ihnen war das Schicksal von Pitneys Badeort egal. Die Camden-Atlantic Railroad und die Camden-Atlantic Land Company halfen zwar beim Bau des Orts mit, eine ordentliche Infrastruktur genoss jedoch keine Priorität.
Zahlreiche Kritiker hatten vorhergesagt, dass Cape May weiterhin das beliebteste Ferienziel bleiben würde. Pitney wollte die Reichen von seiner Stadt überzeugen, aber die änderten ungern ihre Gewohnheiten. Wer es sich leisten konnte, reiste weiter nach Cape May. Die stetig wachsende Arbeiterschicht aus Philadelphia und Camden hingegen hatte dafür kein Budget. Allerdings konnten sie sich auch keinen längeren Aufenthalt in Atlantic City leisten, und so kauften sie lediglich ein Eisenbahnticket, fuhren morgens hin und abends wieder zurück, ohne Geld für eine Übernachtung auszugeben.
Zu Anfang kam die Camden-Atlantic Railroad finanziell nur knapp über die Runden. Aus Berichten geht hervor, dass »Überflutungen der Bahnstrecke und der Verfall der Wertpapiere das wirtschaftliche Überleben des Projekts gefährdeten. Dieser Kampf währte ganze sechzehn Jahre lang.« 9
Die Eisenbahngesellschaft musste während der Wirtschaftskrise von 1857 sogar kurzzeitig Konkurs anmelden. Nur eine Geldspritze der Investoren hielt sie über Wasser. Die materielle Unsicherheit während des Bürgerkriegs verhinderte, dass die Stadt neue Geldgeber fand und weiterwachsen konnte. Erst ab 1872 ging es bergauf: Der Reisekomfort stieg, die Waggons waren jetzt sauber und bequem – es gab sogar Fenster aus Glas. Jedes Jahr reisten nun mehr
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