Boardwalk Empire
als 40 0 000 Passagiere in die Stadt, und die Railroad Company konnte ihren Aktionären erstmals Dividenden auszahlen. 1874 stieg die Zahl der Reisenden auf 50 0 000.
Nach zwanzig Jahren hatte sich Atlantic City als Ferienort etabliert. Pitney verbrachte die letzten Jahre seines Lebens ruhig und ungestört in Absecon Village, wo er 1869 starb. Für den deutlich jüngeren Samuel Richards war Atlantic City noch lange nicht am Ziel angekommen. Es gab noch über tausend Hektar unerschlossenes Land, das auf Käufer wartete. Die Geschäftsleute, die die ersten zwanzig Jahre überdauert hatten, kehrten in den Wintermonaten nach Philadelphia zurück und hinterließen eine Geisterstadt. Richards war klar, dass man die Massen anlocken musste, um aus der Stadt eine Attraktion und auf Dauer einen lebenswerten Ort zu machen. Das war nur möglich, wenn er die arbeitende Bevölkerung von Philadelphia mit billigen Zugfahrkarten anlocken konnte.
Mehrere Jahre lang versuchte Richards vergebens, die Camden-Atlantic-Eisenbahngesellschaft davon zu überzeugen, ihre Preise zu senken. Er stellte ihnen höhere Gewinne bei verringerten Fahrtkosten in Aussicht, weil so die Besucherzahlen stiegen. Er stieß damit auf taube Ohren und verlor 1875 endgültig die Geduld mit seinen Teilhabern. Mit drei Partnern verließ er den Vorstand der Camden-Atlantic Railroad und gründete eine eigene Eisenbahngesellschaft, um eine preiswertere Strecke zu bauen. Die Trassen waren schmaler und somit auch günstiger in der Herstellung: Die Spur war nur ungefähr einen Meter breit, statt dem Standardwert von anderthalb Metern zu entsprechen.
Die Aussicht auf eine zweite Bahnstrecke spaltete Atlantic City. Jonathan Pitney war zwar bereits seit sechs Jahren tot, aber sein Traum vom exklusiven Seebad lebte weiter, und dazu passte die Unterschicht von Philadelphia nicht. Zahlreiche Geschäftsleute sprachen sich gegen Richards Idee aus, sie wollten nichts mit dem Proletariat von Philadelphia zu tun haben. Monatelang wurde hitzig debattiert. Die meisten Einwohner wollten, dass ihre Stadt weiterhin das verschlafene Nest am Meer blieb, aber Richards hörte nicht auf sie. Genau wie vor vierundzwanzig Jahren wandte er sich an die Regierung des Bundesstaats und erhielt erneut die Genehmigung für eine Eisenbahnstrecke.
Die Philadelphia-Atlantic City Railway Company nahm im März 1876 ihren Betrieb auf. Der Vorsitz der Camden-Atlantic war sauer, weil er sein Monopol verlor, und legte Richards alle nur erdenklichen Steine in den Weg. Richards wollte die Linie gleichzeitig von beiden Enden her anlegen, aber die Camden-Atlantic weigerte sich, das Baumaterial über ihre Strecke zu transportieren. Somit war der Lieferant, die Baldwin Locomotive Works, gezwungen, seine Maschinen über den Seeweg an Cape May vorbeizuschiffen, die Schienenteile kamen per Frachter aus Baltimore.
Richards ließ sich durch nichts von seinem Vorhaben abbringen. Er wollte, dass die Züge bereits im Sommer 1877 fuhren. Entsprechend hastig wurde die Strecke gebaut. Die Teams arbeiteten sieben Tage am Stück in Doppelschichten, 85 Kilometer Schienen wurden in nur neunzig Tagen verlegt. Nie zuvor war in Friedenszeiten eine Eisenbahnlinie in dieser Geschwindigkeit fertiggestellt worden.
Der erste Zug der Philadelphia-Atlantic City Railway Company erreichte Atlantic City am 7. Juli 1877. Bisher hatten die Tickets drei Dollar hin und zurück und zwei Dollar einfach gekostet. Für die neue Strecke verlangte die Gesellschaft nur noch einen Dollar bzw. 1,50. Das Zauberwort lautete »Tagesausflug«. Richards wusste, dass sich die meisten Besucher von Atlantic City nur einen Kurzbesuch leisten konnten, und seine Eisenbahngesellschaft war genau darauf eingestellt. In Atlantic City stellte man währenddessen kurzweilige Attraktionen zur Verfügung, angepasst an Kunden mit weniger Geld und kürzerer Aufenthaltsdauer. Das Hotelgewerbe musste sich erst einmal gedulden.
Richards richtete seine Eisenbahnlinie für Kunden aus, denen es egal war, ob sie in schrottreifen Waggons reisten. Sie störte nicht, dass es keine Fenster gab und dass sie vollkommen verrußt an der Küste ankamen. Genauso wenige beklagten sie sich über die Sitze, die nur aus Holzbohlen und ein paar Kissen bestanden. Der Zug quietschte und wackelte zwar die gesamte Fahrtdauer, aber das spielte keine Rolle, solange die Tickets nur einen Dollar kosteten. 1883 wurde Richards’ neue Linie dann an die Reading Railroad Company verkauft und in eine
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