Bob, der Streuner
Verkehrsgewühl. Er war »auf dem Sprung«. Das konnte ich nun wirklich nicht zulassen. Diese Straße zu überqueren war nur etwas für Katzen mit Selbstmordgelüsten. Also packte ich ihn und setzte ihn mir auf die Schulter, wo er sich seit jeher sicher und wohlfühlte. Sofort kuschelte er sich zufrieden in meine Halsbeuge, während ich mich innerlich fluchend durch die Blechlawine auf die andere Straßenseite schlängelte.
»Okay, Bob, bis hierher und nicht weiter!«, beschwor ich ihn, während ich ihn von meiner Schulter holte. Ich setzte ihn auf den Gehweg und jagte ihn fort. Beleidigt verschwand er in der Menschenmenge. Er war jetzt ziemlich weit weg von meiner Wohnung. Vielleicht habe ich ihn heute zum letzten Mal gesehen, dachte ich noch.
Dann kam der Bus, und ich stieg vorne ein. Es war einer dieser alten roten Doppeldecker, bei denen man auch hinten aufspringen kann. Ich lief durch den Bus bis zur letzten Reihe, verstaute meine Gitarre im Gepäcknetz und wollte mich gerade hinsetzen, als ich ganz kurz etwas Rotes aufblitzen sah. Noch bevor ich Luft holen konnte, war Bob auf den freien Sitz neben mir gesprungen und hatte sich wie selbstverständlich dort ausgestreckt.
Fassungslos starrte ich ihn an und blickte dabei der Wahrheit ins Auge: Diese Katze werde ich nie wieder los. Als hätte Bob eine Sperre in meinem Kopf gelöst, konnte ich mir endlich eingestehen, dass er aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken war.
Ich klopfte mit der Hand einladend auf meinen Oberschenkel, und Bob kletterte sofort auf meinen Schoß. Als die Schaffnerin kam, lächelte sie zuerst Bob an und dann auch mich. Sie war eine fröhliche Frau aus der Karibik.
»Ist das Ihre Katze?«, fragte sie, während sie Bob streichelte.
»Ich glaube, ja«, erwiderte ich und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
5
Im Mittelpunkt
I n der nächsten Dreiviertelstunde drückte sich Bob das Näschen am Busfenster platt und beobachtete fasziniert, wie Busse, Fahrräder, Lastwagen und Fußgänger an uns vorbeiflogen. Bestimmt ein ungewöhnliches Schauspiel für eine Katze, aber Bob blieb cool wie immer.
Nur das hysterische Sirenengeheul von Polizei, Feuerwehr oder Krankenwagen war ihm unheimlich. Wenn ein solcher Wagen dem Bus und damit auch den empfindlichen Ohren des Katers zu nahe kam, riss er sich schleunigst vom Fenster los und drückte sich so lange schutzsuchend an mich, bis der laute Störenfried im Verkehrsgewühl wieder untergetaucht war. Für einen Londoner Straßenkater war Bobs Benehmen allerdings merkwürdig. Er musste die aufdringlichen Geräusche unserer Notdienste doch längst gewöhnt sein. Und schon grübelte ich wieder darüber nach, wie dieser seltsame Kater vor unserer Begegnung wohl gelebt haben könnte.
»Keine Angst, Bob!«, flüsterte ich und streichelte ihm beruhigend über den Rücken. »So klingt es immer im Zentrum von London. Daran musst du dich gewöhnen.«
Es war schon seltsam. Dieser Straßenkater war mir nichts schuldig. Ich hatte alles versucht, ihm das klarzumachen. In den letzten Wochen hätte er jederzeit verschwinden können. Aber jetzt war es an der Zeit, Bobs Entscheidung zu akzeptieren: Er war in mein Leben getreten, um zu bleiben. Ich hatte das Gefühl, dass wir diese Busfahrt noch sehr oft gemeinsam machen würden.
An der U-Bahn-Station Court Road mussten wir raus. Heute schulterte ich nicht nur Gitarre und Rucksack, als die Ausstiegsstelle näher kam, sondern nahm auch noch Bob auf den Arm. Auf dem Gehweg fischte ich in meinen Manteltaschen nach den Schuhbändern, die ich früher schon als Leine für ihn benutzt hatte. Sie waren noch da. Bob bekam die Behelfsleine umgebunden, denn es war zu gefährlich, ihn an dieser belebten Kreuzung von Tottenham Court Road und Oxford Street frei laufen zu lassen. Die Menschenmassen von Touristen, Leuten auf Shoppingtour und anderen, die ihrem Tagesgeschäft nachgingen, war Bob schließlich nicht gewöhnt. In diesem Getümmel hätte ich ihn leicht verlieren können. Im schlimmsten Fall wäre er noch von einem Bus oder Taxi überfahren worden.
Tatsächlich wirkte er nun doch etwas eingeschüchtert. Ein fremdes Revier, viele vorbeihastende Beine und keinerlei schützende Zufluchtsstellen in Sicht – zumindest nahm ich an, dass er so etwas dachte. Ich bahnte uns einen Weg durch die Menge. Seine Anspannung war deutlich zu erkennen, weil er ständig hilfesuchend zu mir aufsah. Es wurde Zeit, aus dem Gewühl zu verschwinden. Ich wollte über die ruhigeren
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