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Bob und wie er die Welt sieht

Bob und wie er die Welt sieht

Titel: Bob und wie er die Welt sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Bown
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würden oder dabei zusehen können, wie ihre Freundin neben ihnen verreckt. Wenn ein Drogensüchtiger mitbekommt, dass ein anderer an einer Überdosis stirbt, würde er Folgendes tun: den Sterbenden nach Bargeld durchsuchen, ihm sämtliche Schmuckstücke abnehmen und dann ganz schnell das Weite suchen. Der eine oder andere würde dann vielleicht noch den Krankenwagen rufen, aber nur anonym, denn er will keinesfalls in polizeiliche Ermittlungen hineingezogen werden.
    Natürlich kannte der junge Polizist den Ruf unseres Wohnblocks und seine zwielichtige Vergangenheit. Aber mir gegenüber war er sehr verständnisvoll.
    »Okay, Mister Bowen, das wäre erst mal alles für den Moment«, beendete er seine Befragung. »Ich glaube nicht, dass wir Sie wegen der weiteren Untersuchung des Vorfalls noch mal brauchen, aber wir legen Ihre Kontaktdaten trotzdem in die Akte, falls sich doch noch weitere Fragen ergeben.«
    Damit war die offizielle Befragung beendet. Aber er erzählte mir noch, dass sie einen Ausweis und ein Medikament bei ihm gefunden hatten, auf dem sein Name und seine Adresse standen. Deshalb wussten sie bereits, dass er Patient einer Entzugsklinik mit Tagesausgang gewesen war.
    Als ich den Polizisten zur Tür brachte, war der Flur wieder aufgeräumt und leer. Nichts erinnerte mehr an den schrecklichen Vorfall. Kein Ton oder Geräusch kam aus den anderen Wohnungen, es herrschte Grabesstille. Niemand außer mir war um diese Tageszeit zu Hause.
    Die gleichgültige Stille löste in mir einen Dammbruch aus. Wie in einem Flashback überrollten mich die Bilder des gerade erlebten Zwischenfalls. Meine bisher mühsam aufrechterhaltene Selbstbeherrschung bröckelte. Zurück in der Wohnung, brach ich in Tränen aus und zitterte am ganzen Körper. Ich wählte Belles Nummer und bat sie, zu mir zu kommen. Ich brauchte dringend jemanden zum Reden.
    Wir saßen bis weit nach Mitternacht zusammen und tranken ein paar Bier zu viel. Aber das Bild des Mannes, der vor mir zusammengebrochen war und dann leblos im Flur gelegen hatte, wurde ich nicht mehr los.

    Dieser Schockzustand dauerte mehrere Tage. Ich kam einfach nicht darüber hinweg, wie der arme Mann gestorben war. Er hatte die letzten Sekunden seines Lebens auf dem kalten Boden eines fremden Hauses verbracht, mit einem fremden Menschen an seiner Seite. So sollte ein Leben nicht enden. Er war doch zumindest ein Sohn, wenn nicht sogar Bruder oder Vater. Seine Familie hätte bei ihm sein sollen oder wenigstens ein Freund. Wo waren diese Leute? Warum hatte sich niemand um ihn gekümmert? Mir war auch völlig schleierhaft, wie man einem rückfallgefährdeten Junkie aus der geschlossenen Abteilung einer Klinik Ausgang gewähren konnte.
    Schließlich musste ich mich auch damit auseinandersetzen, warum mich dieser Vorfall so mitgenommen hatte. Der Tote auf meiner Etage hätte ich sein können. Das klingt jetzt vielleicht übertrieben, aber ich fühlte mich wie Ebernezer Scrooge aus Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte, als dieser von den Geistern seiner Vergangenheit heimgesucht wurde.
    Fast zehn Jahre habe ich so gelebt wie der Tote auf meinem Treppenabsatz. Damals war ich die Schattengestalt, die sich in Treppenfluren und dunklen Gassen herumtrieb: ein Gefangener meiner Sucht. An Einzelheiten aus dieser Zeit kann ich mich nicht mehr erinnern. Ein Großteil meiner Vergangenheit liegt im Dunkeln. Aber ich kann davon ausgehen, dass es in dieser Zeit Dutzende, vielleicht sogar Hunderte von Gelegenheiten gegeben hat, wo ich allein in einer anonymen Ecke von London hätte sterben können. Weit weg von meinen Eltern und Freunden, von denen ich mich selbst abgewandt hatte.
    Der Tod des Unbekannten hatte mich sehr aufgewühlt. Ein Teil von mir konnte nicht glauben, wie ich früher gelebt hatte. Immer nur auf das eine fixiert: den nächsten Schuss. Wieso habe ich meinem gesunden Körper das angetan? Wie um alles in der Welt habe ich es geschafft, mir selbst eine Nadel ins Fleisch zu rammen? Und das bis zu viermal am Tag! Heute ist es unvorstellbar für mich, damals war es mein Alltag. Die Narben waren noch da. Als sichtbare Erinnerung an das, was ich getan hatte.
    Aber auch als Warnung, dass die Sache noch nicht ausgestanden war. Ein Suchtkranker balanciert ständig auf Messers Schneide. Für den Rest meines Lebens bleibe ich »gefährdet«, und meine labile psychische Verfassung machte mich generell anfällig für selbstzerstörerisches Verhalten. Schon der kleinste schwache Moment konnte

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