Bob und wie er die Welt sieht
erkannte man schon von Weitem. Die Mädchen trugen alle superkurze Röcke oder Kleider und dazu hochhackige Schuhe, die Jungs Lederjacken und eine Menge Gel im Haar. Die Opernfans waren immer am besten gekleidet. Die Männer in edlen schwarzen Anzügen mit schwarzen Krawatten und die Frauen in großer Abendrobe, mit glitzernden Klunkern behangen. Das Geklimper von so manchem Schmuckbehang konnten wir noch lange hören, auch wenn sie längst nicht mehr zu sehen waren auf ihrem Weg zum großen Platz, der Piazza, und dem Royal Opera House.
Dieser Stadtteil war voller Exzentriker. Auch wir blieben von ihnen nicht verschont – und zwar schneller, als uns lieb war.
Eines Nachmittags kurz vor Sommerbeginn bemerkte ich einen Neuen, der sich ganz in unserer Nähe einzurichten schien.
Es war nicht ungewöhnlich, dass neue Leute versuchten, hier etwas Geld zu verdienen. Ich hatte auch gar nichts dagegen, solange mir niemand die Existenzgrundlage nahm. Die einzigen Mitstreiter, die mir wirklich den letzten Nerv raubten, waren die Blechdosen-Sammler. Diese freiwilligen Helfer diverser Hilfsorganisationen, die von Zeit zu Zeit scharenweise über bestimmte Plätze herfielen und die Passanten mehr bedrängten, als dass sie um Spenden baten.
Das war keine Doppelmoral von mir. Wir mussten alle arbeiten, um zu überleben, und natürlich habe ich als Verkäufer der Big Issue bei zögerlichen Kunden auch manchmal ein bisschen gedrängelt. Aber die Blechdosen-Heinis waren wirklich respektlos und meist so aufdringlich, dass es an Schikane grenzte.
Aber mit denen hatte der Neue zum Glück nichts gemein. Seine Haut war dunkel gebräunt und er trug einen Anzug. Er hatte einen seltsam geformten Korb dabei, den er vor sich auf den Boden stellte. Er war bestimmt ein Straßenkünstler, aber ich hatte keine Ahnung, was er vorhatte.
Er machte mich neugierig, und ich beobachtete ihn weiter, weil ich an diesem langweiligen Tag ein bisschen Abwechslung gut gebrauchen konnte. Und ich wurde tatsächlich nicht enttäuscht. Er griff in den Korb, holte eine leuchtend gelbe Schlange heraus und legte sie um seinen Hals. Ich hatte zwar keine Ahnung von Schlangen, aber ich glaube, es war eine Albino-Python. Sie war ganz schön dick und mindestens einen Meter lang. Er lief mit ihr herum, spielte dabei mit ihr und bat die Passanten um eine kleine Spende.
»Schau mal Bob, ein Schlangenbeschwörer«, machte ich meinen kleinen Freund auf die neue Attraktion aufmerksam. Ich konnte meine Augen gar nicht mehr von diesem beeindruckenden Wesen abwenden, das sich gemächlich um sämtliche Körperteile seines Besitzers schlang.
Bob sah sich zwar interessiert um, aber ganz offensichtlich verstand er nicht, was da vor sich ging. Wir waren bestimmt 30 Meter weit weg, und wahrscheinlich konnte Bob die beiden nicht sehen. Gemächlich zog er sich wieder auf seinen Lieblingsplatz im Schatten zurück und setzte sein Nachmittagsschläfchen fort.
Nach etwa einer Stunde kam der Schlangenbeschwörer zu uns herüber, um uns zu begrüßen. Die Schlange hing um seinen Hals wie ein zu groß geratenes Schmuckstück.
»Hallo Jungs, wie geht’s euch?«, sprach er uns an. Er hatte einen starken südamerikanischen Akzent. Bob hatte bisher geschlafen und wachte von der fremden Stimme auf. Aufmerksam betrachtete er den seltsamen Besucher. Ich sah, wie es hinter seiner Stirn arbeitete, wie er überlegte, ob diese Kreatur hier willkommen war oder nicht. Die Entscheidung fiel schneller, als ihm lieb war.
Bob streckte neugierig seinen Kopf nach vorne, um besser sehen zu können, und die Schlange streckte gleichzeitig ihre lange, gespaltene Zunge heraus. Dabei gab sie einen furchteinflößenden Zischlaut von sich, genau wie Kaa in dem Disneyfilm Das Dschungelbuch.
Das war’s für Bob. Er flippte aus vor Schreck. Mit einem entsetzten und sehr lauten »Miaaauuuuuuu«, das einem flehentlichen Hilferuf glich, sprang er mit einem riesigen Satz hoch und in meine Arme. Schnell wie noch nie stand er auf meiner sicheren Schulter, sein Fell aufgebläht, sodass er fast doppelt so groß erschien wie sonst. Ohne die Leine, die mit meinem Gürtel verbunden war, wäre er wohl panisch davongestürmt, wie damals an der Angel Station, als er von einem aggressiven Hund angegriffen wurde.
»O Mann, tut mir leid, ich wollte deine Katze nicht erschrecken«, entschuldigte sich der Schlangenbeschwörer entsetzt und nahm die Schlange ab. »Ich suche mir jetzt einen anderen Platz und schau mal, wie es dort
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