Bockmist
Gesicht an. Halb im Schock und halb – na ja: auch im Schock.
»Thomas?«
Wir sahen uns an.
Während wir im strahlenden Sonnenschein auf der Cork Street, London, England, standen und uns in die Augen sahen, während Stevie Wonder im Wagen Schmalz absonderte, verwandelte sich die Welt um uns herum.
Ich weiß nicht, wie sie das anstellten, aber in diesen wenigen Sekunden verschwanden all die Kauflustigen, Geschäftsleute, Bauarbeiter, Touristen und Verkehrspolizisten einfach, sie verschwanden mitsamt ihren Schuhen und Strümpfen, Hosen und Hemden, Trachten und Tüten, Partnern und Pkws, Häusern und Hypotheken, Appetiten und Ambitionen.
Nur Sarah und ich standen noch in dieser lautlosen Welt.
»Ist Ihnen etwas passiert?«, fragte ich tausend Jahre später.
Irgend etwas mußte ich ja sagen. Ich weiß nicht mal, was ich damit meinte. Befürchtete ich, daß ich ihr etwas getan hatte oder daß diverse andere Leute ihr etwas getan hatte?
Sarah sah mich an, als ob sie das genausowenig wüßte, aber nach einiger Zeit müssen wir uns für Option A entschieden haben.
»Nein, nichts passiert«, sagte sie.
Dann setzten sich die Komparsen unseres Films wieder in Bewegung und gaben Geräusche von sich, als wäre ihre Mittagspause vorbei. Sie schwatzten, schlurften, husteten und ließen Dinge fallen. Sarah rieb sich behutsam die Hände. Ich sah mich nach der Motorhaube um. Sie hatte Dellen bekommen.
»Sind Sie sicher?«, fragte ich. »Ich meine, Sie müssen doch …«
»Ehrlich, Thomas, nichts passiert.« Es entstand eine Pause, die sie damit verbrachte, ihr Kleid zurechtzuzupfen, und die ich damit verbrachte, ihr dabei zuzusehen. Dann sah sie mich an. »Und Sie?«
»Ich?«, sagte ich. »Och, ich …«
Je nun, was sollte ich sagen? Wo sollte ich anfangen?
Wir gingen in einen Pub. Den Duke of Irgendwoshire, der sich in die Ecke einer Nebenstraße am Berkeley Square schmiegte.
Sarah setzte sich an einen Tisch, öffnete ihre Handtasche und kramte darin herum wie alle Frauen. Ich fragte, was sie trinken wolle. Sie sagte, einen großen Whisky. Ich hatte vergessen, ob man Menschen unter Schock Alkohol einflößen sollte oder gerade nicht, aber da ich keine Lust hatte, in einem Londoner Pub um heißen, süßen Tee zu bitten, trat ich an die Bar und bestellte zwei doppelte Macallans.
Ich betrachtete sie, die Fenster und die Tür.
Die mußten sie einfach beschatten. Etwas anderes blieb ihnen gar nicht übrig.
Da einiges für die auf dem Spiel stand, war es mir unvorstellbar, daß die sie unbewacht herumlaufen lassen sollten. Ich war der Löwe, wenn Sie sich das einen Augenblick lang vorstellen können, und sie war die angebundene Ziege. Es wäre Wahnsinn gewesen, sie frei herumstreunen zu lassen.
Außer.
Niemand kam herein, niemand spähte herein, niemand lief vorbei und warf einen Blick herein. Nichts. Ich sah Sarah an.
Sie brauchte ihre Handtasche nicht mehr, saß einfach nur da und sah gleichgültig ins Leere. Sie war benommen und dachte an gar nichts. Oder sie saß in der Klemme und dachte an alles. Das konnte ich nicht beurteilen. Ich war einigermaßen sicher, daß sie wußte, daß ich sie ansah, also war es komisch, daß sie meinen Blick nicht erwiderte. Aber Komik ist kein Verbrechen.
Ich nahm die Drinks entgegen und ging zum Tisch zurück.
»Danke«, sagte sie, nahm mir ein Glas ab und kippte sich den Whisky auf ex hinter die Kiemen.
»Immer mit der Ruhe«, sagte ich.
Einen Augenblick lang sah sie mich richtig aggressiv an, als wäre ich ein weiterer Mensch in einer langen Schlange von Menschen, die ihr in die Quere kämen und ihr etwas vorschreiben wollten. Aber dann fiel ihr ein, wer ich war – oder ihr fiel ein, daß sie so tun mußte, als fiele es ihr ein –, und sie lächelte. Ich lächelte ebenfalls.
»Da reift der nun zwölf Jahre lang in einem Sherryfaß«, sagte ich quietschfidel, »mopst sich jahraus, jahrein an einem Hang in den Highlands und wartet auf den großen Tag – und dann, peng, rauscht er einfach so durch. Wer möchte da schon Single Malt sein?«
Ich laberte natürlich drauflos. Aber unter diesen Umständen war das mein gutes Recht, fand ich. Ich war angeschossen, verprügelt, vom Motorrad gestoßen, eingelocht, belogen, bedroht, benutzt und beschlafen worden, und ich mußte auf Leute schießen, die ich nie zuvor gesehen hatte. Ich hatte monatelang mein Leben aufs Spiel gesetzt, und in ein paar Stunden würde ich es wieder ins Kasino tragen, nebst Unmengen anderer Leben,
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