Bockmist
Erde.
»Thomas, was hältst du davon, wenn wir fliehen?«
Sie stockte, bedachte mich endlich mit einem Augenaufschlag – oh, diese wunderschönen grauen Augen! –, und ich sah die Verzweiflung in ihrem Blick, sowohl in der Tiefe als auch an der Oberfläche. »Zusammen«, sagte sie. »So schnell wie möglich davonlaufen.«
Ich sah sie an und seufzte. In einer anderen Welt wäre sie damit vielleicht durchgekommen, dachte ich. In einer anderen Welt, einem anderen Universum, einer anderen Zeit, als zwei andere Menschen hätten wir das alles vielleicht hinter uns lassen können, hätten uns auf eine sonnenüberflutete Insel in der Karibik abgesetzt und den lieben langen Tag an Sex und Ananassaft gelabt.
Vieles, was ich lange nur vermutet hatte, wußte ich jetzt; und das Wissen um vieles, was ich schon lange gewußt hatte, haßte ich jetzt.
Ich holte tief Luft.
»Wie gut kennst du Russell Barnes?«, fragte ich.
Sie zwinkerte.
»Was?«
»Ich habe dich gefragt, wie gut du Russell Barnes kennst.«
Sie starrte mich kurz an und stieß dann ein Lachen aus; so wie ich, wenn ich merke, daß ich in Teufels Küche geraten bin.
»Barnes«, sagte sie, vermied meinen Blick, schüttelte den Kopf und tat so, als hätte ich bloß gefragt, ob sie lieber Coca-Cola oder Pepsi trank. »Was zum Teufel hat der denn …«
Ich packte sie am Ellbogen und riß sie herum, damit sie mir ins Gesicht sehen mußte.
»Krieg’ ich vielleicht heute noch ‘ne Antwort – bitte schön?«
Die Verzweiflung in ihren Augen wich der Panik. Ich machte ihr angst. Ehrlich gesagt machte ich mir selber angst.
»Thomas, ich versteh’ überhaupt nicht, wovon du redest.«
Das war’s dann ja wohl.
Damit erlosch mein letzter Hoffnungsschimmer. Als sie mich dort am Ufer in der aufsteigenden Nacht anlog, da war mir alles klar.
»Du hast sie angerufen, stimmt’s?«
Sie wollte sich losreißen und lachte wieder.
»Thomas, du bist so … was ist denn plötzlich in dich gefahren?«
»Sarah, bitte«, sagte ich, ließ ihren Arm aber nicht los, »jetzt tu doch nicht so.«
Langsam hatte sie echte Angst und versuchte ihren Arm loszureißen. Ich gab nicht nach.
»Herrgott …«, setzte sie an, aber ich schüttelte den Kopf, und sie verstummte. Ich schüttelte den Kopf, als sie es mit Stirnrunzeln probierte, und ich schüttelte den Kopf, als die Furcht wieder dran war. Ich wartete, bis sie alle Posen durchhatte.
»Sarah«, sagte ich schließlich, »jetzt hör mir mal gut zu. Du weißt doch, wer Meg Ryan ist, oder?« Sie nickte. »Nun, Meg Ryan bekommt Millionen Dollar für das, was du mir da gerade vorstümperst. Zig Millionen. Und weißt du auch, warum?« Sie starrte mich bloß an. »Weil es sehr schwer ist und weil es auf der ganzen Welt nur etwa ein Dutzend Leute gibt, die es auf diese Entfernung überzeugend hinkriegen. Also laß das Schauspielern, laß das Heucheln, laß das Lügen.«
Sie schloß den Mund und erschlaffte plötzlich. Ich lockerte meinen Griff und ließ sie dann ganz los. Wir standen uns wie Erwachsene gegenüber.
»Du hast sie angerufen«, wiederholte ich. »Du hast sie am allerersten Abend angerufen, als ich bei euch zu Hause war. Du hast sie vom Restaurant aus angerufen, an dem Abend, als sie mein Motorrad gerammt haben.«
Das letzte Stück hätte ich uns beiden gern erspart, aber irgend jemand mußte es ja sagen.
»Und du hast sie auch angerufen«, sagte ich, »bevor sie dann deinen Vater umgebracht haben.«
Sie weinte eine Stunde lang, auf Hampstead Heath, auf einer Bank, im Mondschein, in meinen Armen. Alle Tränen dieser Welt strömten ihr über das Gesicht und versickerten im Boden.
Einmal wurde ihr Weinen so heftig und so laut, daß sich in einiger Entfernung die ersten Zuschauer versammelten und halblaut beratschlagten, ob man die Polizei rufen solle, es sich aber anders überlegten. Warum nahm ich sie in die Arme? Warum zog ich eine Frau an mich, die ihren Vater verraten und mich wie ein Kleenex benutzt und weggeworfen hatte?
Wenn ich das wüßte.
Auch als ihre Tränen schließlich versiegten, hielt ich sie noch fest und spürte ihren Körper, der von einem Schluckauf zitterte und bebte, wie Kinder ihn nach dem Weinen bekommen.
»Er sollte nicht sterben«, sagte sie plötzlich mit klarer und fester Stimme, die gar nicht zu ihrer Verfassung paßte. Vielleicht war es auch nicht ihre Stimme. »Soweit sollte es nie kommen.« Sie wischte sich mit dem Ärmel die Nase. »Sie hatten mir sogar versprochen, daß sie ihm
Weitere Kostenlose Bücher