Bodenlose Tiefe
dass sie nicht wieder an Land gegangen sind, wo sie herkommen. Ohne Träume kann man nichts Großes leisten.«
»Vielleicht haben sie eine andere Art zu träumen. Wie ihre Gehirne funktionieren, ist der Wissenschaft nach wie vor ein Rätsel.« Sie lächelte. »Aber es ist ein wunderbares Rätsel.
Wusstest du, dass es am Schwarzen Meer einen Ort gibt, wo man psychisch gestörte Kinder mit Delphinen spielen lässt?
Offenbar hat das eine heilende Wirkung. Wenn die Kinder wieder nach Hause fahren, sind sie entspannt und glücklich.
Aber das Interessanteste ist, dass die Delphine am Ende eines Tages mit den Kindern missmutig und irritiert sind. Es ist, als würden sie den Kindern ihre Probleme abnehmen und diese gegen ihre eigene Gelassenheit eintauschen.«
»Das kommt mir ziemlich weit hergeholt vor.«
Melis nickte. »Es gibt eine Menge Leute, die das Programm mit Skepsis betrachten.«
»Aber du glaubst, dass es Erfolg hat?«
»Ich weiß, was die Delphine mir gegeben haben. Ich war völlig verstört, als ich in Chile ankam und die Delphine zum ersten Mal gesehen habe.«
»Und sie haben dir deinen Frieden wiedergegeben.«
Sie lächelte. »Das weißt du noch?«
»Ich erinnere mich an alles, was du mir erzählt hast.« Er wandte sich zum Gehen. »In einer Stunde komme ich mit frischem Kaffee.«
Sie schaute ihm nach, dann streckte sie sich auf dem Deck aus und legte ihren Kopf auf seine Jacke. Sie duftete nach Limone, nach Salzluft und Männlichkeit und war noch warm von seinem Körper. Der Geruch hatte etwas Tröstliches.
»Ich bin hier, Jungs!«, rief sie den Delphinen zu. »Niemand wird euch etwas zuleide tun. Ich weiß, das ist alles ein bisschen seltsam, aber wir müssen das jetzt einfach durchstehen.«
Einfach weiterreden. Sie mussten ihre Stimme hören.
Immer weiterreden.
Um halb sieben am nächsten Morgen wurden die Motoren angelassen. Sie warteten eine Stunde, bis die Delphine sich an das Geräusch und die Vibration gewöhnt hatten, dann machte sich die Trina langsam auf den Weg in Richtung Osten.
Melis’ Hände umklammerten die Reling. Pete und Susie waren immer noch an der Stelle, wo sie die ganze Zeit über herumgeschwommen waren. »Kommt schon, es geht los.«
Sie ignorierten sie.
Melis blies in ihre Trillerpfeife.
Pete zögerte kurz, dann schwamm er in die entgegengesetzte Richtung. Susie folgte ihm sofort.
»Pete! Komm zurück!«
Er tauchte ab.
»Soll ich anhalten?«, fragte Kelby.
»Noch nicht.«
Jetzt war Susie ebenfalls verschwunden, sie war Pete in die Tiefen des Meers gefolgt.
O Gott, wenn sie nun nicht zurückkamen? Was, wenn sie sich entschlossen hatten, sie zu – Plötzlich tauchte Petes Kopf direkt vor ihnen auf. Schadenfroh glucksend stieg er halb aus dem Wasser und paddelte rückwärts durch die Wellen.
Melis atmete erleichtert auf. »Sehr witzig, Pete. Und wo ist Susie?«
Im nächsten Augenblick erschien Susies Schnauze neben Petes. Mit schrillem Schnattern begann sie, ihn nachzuahmen.
»Ihr seid wunderbar. Aber jetzt ist die Show zu Ende«, sagte Melis. »Wir fahren los.«
Und sie folgten ihnen beide, schwammen und sprangen im Kielwasser der Trina.
»Alles in Ordnung?«, fragte Kelby.
»Alles in Ordnung«, murmelte Melis. »Gib ihnen noch eine Stunde, dann kannst du Gas geben.«
»Sehr gut. Denn sonst würden wir eine Woche brauchen bis Cadora.« Er schaute den Delphinen zu. »Gott, sie sind wirklich schön. Ich fühle mich wieder wie ein kleiner Junge.«
»Die Delphine fühlen sich auch wie Kinder. Pete hat mir doch tatsächlich einen Streich gespielt.«
»Musst du immer noch mit ihnen reden?«
»Sicherheitshalber. Aber wenn sie so rumspringen, achten sie sowieso nicht auf mich. Wie lange brauchen wir bis Cadora?«
»Das hängt von den Delphinen ab.« Er drehte sich um und ging in Richtung Brücke. »Zumindest bis zum Sonnenuntergang.«
Das Gefühl der Erleichterung war wie weggeblasen.
Sonnenuntergang in Petes und Susies heimatlichen Gewässern.
Instinkt und genetisches Gedächtnis würden sich vielleicht entfalten.
Konnte es sein, dass sie sie verlassen würden?
Cadora erhob sich dunkel und gewaltig vor dem rosafarbenen Abendhimmel. Die Sonne ging unter wie ein riesiger Feuerball.
Und Pete und Susie hielten sich immer noch in der Nähe, obwohl Kelby die Motoren ausgeschaltet hatte.
»Und jetzt?«
»Jetzt warten wir ab.« Melis lehnte sich auf die Reling, den Blick auf die Delphine gerichtet. »Es liegt an euch, Jungs. Ich habe euch nach Hause
Weitere Kostenlose Bücher