Bodenlose Tiefe
»Ich werde nicht mit ansehen, wie du noch eine Nacht hier draußen Wache schiebst. Ich weiß, dass du dir wünschst, sie würden von allein zurückkommen, aber dann sollten sie sich ein bisschen beeilen.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging in Richtung Brücke. »Um vier Uhr beginnen wir mit der Suche.«
»Er meint es ernst, Melis«, sagte Nicholas. »Wenn Ihre Trillerpfeife etwas taugt, dann sollten Sie sie am besten gleich benutzen.«
Verzweifelt schüttelte sie den Kopf. »Nichts wird etwas nützen, wenn sie nicht zurückkommen wollen.«
»Soll ich’s mal mit ein bisschen Schamanenmagie versuchen?«
»Nein, aber ein Gebet könnte helfen.«
»Kein Problem. Christlich, hinduistisch oder buddhistisch?
Bei den anderen Religionen habe ich keinen Einfluss.« Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Denken Sie an das alte Sprichwort, das besagt, so wie der Baum gebogen ist, so wächst er auch. Die Delphine mögen Sie. Das werden sie nicht vergessen.«
»Aber sie sind nicht hier.« Melis schüttelte den Kopf.
»Trotzdem – sie werden kommen. Ich muss nur Geduld haben.«
Gegen Mittag waren die Delphine immer noch nicht aufgetaucht.
Auch um halb drei war noch keine Spur von ihnen zu sehen.
Um Viertel nach drei schoss eine Fontäne direkt vor Melis aus dem Meer.
Pete!
Laut klickend stellte er sich auf und paddelte rückwärts, um gleich darauf wieder abzutauchen.
»Wo ist Susie?«, fragte Kelby, der gleich zu Melis an die Reling geeilt war. »Ich sehe sie nicht.«
Auch Melis sah sie nicht. Aber Pete würde Susie niemals im Stich lassen.
»Da!« Nicholas stand auf der anderen Seite des Schiffs.
»Ist das ein Delphin oder ein Hai da drüben?«
Melis lief zu ihm hinüber. Eine Rückenflosse kam auf das Schiff zu, eine Rückenflosse mit einem V in der Mitte. »Susie!«
Susies Kopf schoss aus dem Wasser und sie begann laut zu schnattern, als versuchte sie, Melis zu erzählen, was sie erlebt hatte.
Dann war Pete neben ihr und bugsierte sie auf das Schiff zu.
»Das wurde aber auch höchste Zeit, dass ihr euch blicken lasst.
Ich habe die ganze Zeit auf euch gewartet und –« Melis unterbrach sich. »Sie ist verletzt. Seht euch ihre Rückenflosse an.« Sie sprang ins Wasser, schwamm zu Susie hinüber und begann, mit ihr zu sprechen.
»Komm her, Susie.«
»Was zum Teufel machst du da?«, rief Kelby. »Komm zurück an Bord und zieh dir einen Taucheranzug an.«
»Ich will mir ihre Verletzung ansehen, um zu entscheiden, ob wir sie an Bord holen müssen. Wenn sie blutet, wird das Haie anlocken.«
»Und die werden dich zum Abendessen verspeisen.«
»Stör mich jetzt nicht.« Sie untersuchte die Rückenflosse.
»Kann sein, dass es geblutet hat, aber jetzt nicht mehr.« Sie schwamm um Susie herum, um sie von allen Seiten zu betrachten. »Keine weiteren Verletzungen.«
Sie tätschelte Susies Schnauze. »Siehst du, was passiert, wenn du nachts herumstromerst?«
Kelby warf ihr ein Seil zu. »Los, komm aus dem Wasser.«
Sie streichelte Petes Schnauze, dann griff sie nach dem Seil und zog sich zur Leiter. »Nicholas, holen Sie ein paar Fische, ja?«
»Wird gemacht.«
Als sie an Deck kletterte, war er bereits dabei, den Delphinen Heringe zuzuwerfen. Melis nahm das Handtuch, das Kelby ihr reichte, und trocknete sich ab, während sie zusah, wie Pete und Susie die Fische verschlangen.
Sie strahlte übers ganze Gesicht.
»Schön, dass sie wieder da sind«, sagte Kelby. »Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich mal so an zwei Delphinen hängen würde. Ich kam mir schon vor wie der Vater eines jugendlichen Delinquenten.«
»Was für ein Vergleich.« Melis trat an die Reling und schaute zu Pete und Susie hinunter. »Vielleicht hatten sie einen Grund, delinquent zu werden. Ich glaube, die Verletzung an Susies Rückenflosse ist eine Schürfwunde, keine Bisswunde.«
»Und das bedeutet?«
»Delphine bringen ihren Unmut Artgenossen gegenüber häufig dadurch zum Ausdruck, dass sie sich an ihnen reiben. Dabei können sie ziemlich ruppig werden. Möglicherweise wurden Pete und Susie nicht begeistert empfangen. Oder sie hatten Verständigungsschwierigkeiten, bevor sie sich sicher genug fühlten, die Gruppe wieder zu verlassen.«
»Hauptsache, sie sind jetzt hier.« Kelby schaute zum Himmel auf. »Aber bis Sonnenuntergang sind es nur noch vier oder fünf Stunden. Glaubst du, dann verschwinden sie wieder?«
»Wahrscheinlich. Es sei denn, die anderen Delphine haben ihnen übel zugesetzt. Aber sie wirken
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