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Body Farm

Body Farm

Titel: Body Farm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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großen oder kleinen.
    Es war gerade noch hell genug am Lake Tomahawk, um Emilys wahrscheinlich letzte Schritte nachzuvollziehen. Während ich den Wagen an einem Picknickplatz abstellte, blickte ich die Uferlinie entlang und fragte mich, warum ein kleines Mädchen bei Einbruch der Dunkelheit ausgerechnet diesen Weg gewählt haben mochte. Ich selbst hatte während meiner Kindheit in Miami gerade vor dem nahen Wasser große Angst gehabt. Jedes Stück Holz konnte in Wirklichkeit ein Alligator sein, und böse Menschen lauerten an abgelegenen Ufern.
    Beim Aussteigen fragte ich mich, warum Emily keine Angst gehabt hatte. Oder hatte es etwa noch einen anderen Grund dafür gegeben, daß sie gerade hier entlanggegangen war?
    Die Karte, die Ferguson bei unserem Einsatzgespräch in Quantico verteilt hatte, zeigte, daß Emily an jenem frühen Abend des 1. Oktober, nachdem sie die Kirche verlassen hatte, an der Stelle von der Straße abgebogen war, an der ich jetzt stand. Sie hatte dann hinter den Picknicktischen rechts einen Pfad eingeschlagen, der mehr ein Trampelpfad war als ein angelegter Weg. An manchen Stellen war er deutlich erkennbar, an anderen wieder nicht. Er führte durch Unkraut und Gebüsch am Ufer entlang.
    Rasch bahnte ich mir einen Weg durch hohe, wild wuchernde Gräser und Sträucher. Die Schatten der Bergkette senkten sich über das Gewässer, und der Wind frischte auf, ein eisiger Vorbote des Winters. Unter meinen Füßen raschelte trockenes Laub, als ich zu der kleinen freien Stelle kam, die auf der Karte mit dem winzigen Umriß eines Körpers gekennzeichnet war. Inzwischen war es fast ganz dunkel geworden.
    Ich suchte in meiner Tasche nach der Taschenlampe, bis mir einfiel, daß sie zerbrochen in Fergusons Keller lag. Alles, was ich fand, war ein halbleeres Päckchen Streichhölzer aus meinen Rauchertagen.
    »Mist«, sagte ich ein wenig atemlos, und Furcht kroch in mir hoch.
    Ich zog meine .38er heraus, schob sie in eine Außentasche meiner Jacke und starrte, die Hand locker am Knauf, auf die schlammige Landzunge im Wasser, auf der Emily Steiners Leiche gefunden worden war. Gemessen an den Schatten auf den Fotos, an die ich mich erinnerte, mußte das Gebüsch in diesem Bereich kürzlich zurückgeschnitten worden sein. Doch was es sonst noch an Spuren geben mochte, hatte die Natur gnädig zugedeckt, und die hereinbrechende Nacht tat ein übriges. Eine dicke Laubschicht lag auf dem Boden. Ich schob sie mit den Füßen beiseite, in der Hoffnung, etwas zu entdecken, das die Polizei übersehen hatte.
    Die vielen Gewaltverbrechen, die mir in meiner beruflichen Laufbahn begegnet waren, hatten mir eine besonders wichtige Erkenntnis beschert. Ein Tatort ist wie ein stummer Zeuge. Es gibt immer Spuren am Boden: Abdrücke im Erdreich, Insekten, die sich durch die Aufnahme von Körperflüssigkeit verändert haben, zertretene Pflanzen. Wie auch jeder menschliche Zeuge, verliert der Platz durch die Tat sein Eigenleben, denn kein Stein bleibt an seinem Ort, und der Strom der Neugierigen reißt nicht ab, gerade weil es keine Fragen mehr zu stellen gibt. Es ist bekannt, daß es Menschen noch an einen Tatort zieht, wenn es schon lange keinen Grund mehr dafür gibt. Sie machen Fotos und nehmen Souvenirs mit. Sie hinterlassen Briefe, Karten und Blumen. Sie kommen ebenso heimlich, wie sie auch wieder gehen, denn es ist beschämend, einen solchen Ort ohne Grund zu besuchen. Selbst eine Rose niederzulegen, ist wie die Entweihung einer heiligen Stätte. An diesem Tatort fand ich keine Blumen, als ich das Laub beiseite schob, doch mit dem Zeh stieß ich plötzlich gegen ein paar kleine, harte Gegenstände. Ich ließ mich auf die Knie und Hände nieder und versuchte zu erkennen, worum es sich handelte. Nach einigem Suchen entdeckte ich etwas, das wie vier noch in Plastikfolie verpackte Gummikugeln aussah. Erst als ich sie dicht an ein angezündetes Streichholz hielt, erkannte ich, daß es Plombenzieher, zähe Karamelbonbons, waren - Fireballs, wie Emily sie in ihrem Tagebuch genannt hatte. Ich stand keuchend auf. Verstohlen schaute ich mich um und lauschte auf jedes Geräusch. Das Rascheln meiner Schritte im Laub kam mir erschreckend laut vor. Ich folgte dem Pfad weiter, wenngleich ich kaum mehr etwas erkennen konnte. Nur die Sterne und der Halbmond schenkten mir etwas Licht, meine Streichhölzer hatte ich längst aufgebraucht. Von der Karte wußte ich jedoch, daß ich nicht weit von der Straße entfernt war, an der die Steiners

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