Body Farm
ihm ein Taschentuch, und er schneuzte sich.
»Wren«, beharrte ich, »hast du wirklich gesehen, daß Emily die Abkürzung nahm?«
»Nein, Ma'am«, sagte er kleinlaut.
»Hat irgend jemand gesehen, wie sie die Abkürzung nahm?« Er zuckte mit den Schultern. »Warum glaubst du dann, daß sie sie nahm?«
»Alle sagen das«, antwortete er bloß. »So, wie alle auch sagen, wo die Leiche gelegen hat?« fragte ich in freundlichem Ton. Als er nicht antwortete, fügte ich etwas nachdrücklicher hinzu:
»Und du kennst die Stelle auch genau, Wren, nicht wahr?«
»Ja, Ma'am«, sagte er fast flüsternd.
»Kannst du sie mir beschreiben?«
Er starrte noch immer auf seine Hände und antwortete: »Es ist genau dort, wo die ganzen Farbigen hier aus der Umgebung fischen. Da gibt es jede Menge Schlamm und Unkraut und riesige Ochsenfrösche, und Schlangen hängen von den Bäumen. Da hat sie gelegen. Ein Farbiger hat sie gefunden. Sie hatte nur ihre Socken an, sonst nichts, und er hat so einen Schreck gekriegt, daß er so weiß wurde wie Sie. Danach hat Dad all die Lampen angebracht.«
»Lampen?«
»Er hat all diese Scheinwerfer in den Bäumen und sonstwo angebracht. Es ist so hell, daß ich nur ganz schlecht einschlafe, und Mom macht es verrückt.«
»Hat dein Vater dir von der Stelle am See erzählt?« Wren schüttelte den Kopf.
»Wer dann?« fragte ich.
»Creed.«
»Creed?«
»Er ist Hausmeister an unserer Schule. Er macht so 'ne Art Lutscher auf Zahnstochern, die wir ihm für einen Dollar abkaufen. Zehn für 'nen Dollar. Es gibt sie in Pfefferminz oder Zimt, aber ich mag die mit Zimt am liebsten, die schmecken wirklich so geil wie Fireballs. Manchmal verkaufe ich für ihn Süßigkeiten, wenn mir das Geld für den Lunch ausgeht. Aber das dürfen Sie keinem sagen.« Er machte ein besorgtes Gesicht.
»Wie sieht Creed aus?« fragte ich, während es in meinem Hinterkopf leise Alarm läutete.
»Ich weiß nicht«, sagte Wren. »Er hat Pomade im Haar und trägt immer Stiefel und weiße Socken. Ich glaube, er ist ziemlich alt.« Er seufzte.
»Kennst du seinen Nachnamen?« Wren schüttelte den Kopf. »War er schon immer an eurer Schule?« Er schüttelte wieder den Kopf.
»Er hat Alberts Posten übernommen. Albert ist vom Rauchen krank geworden. Sie mußten ihm die Lunge rausschneiden.«
»Wren«, sagte ich, »haben Creed und Emily einander gekannt?«
Jetzt sprach er immer schneller. »Wir haben sie aufgezogen und gesagt, Creed sei ihr Freund. Er hat ihr nämlich mal ein paar Blumen geschenkt, die er gepflückt hatte. Und Bonbons hat er ihr gegeben, weil sie keine Zahnstocherlutscher mochte. Wissen Sie, viele Mädchen mögen lieber Bonbons als Zahnstocherlutscher.«
»Ja«, antwortete ich mit einem wissenden Lächeln, »das kann ich mir vorstellen.«
Zum Schluß fragte ich Wren, ob er an der Stelle gewesen sei, wo Emilys Leiche gefunden wurde. Er behauptete, nein.
»Ich glaube ihm«, sagte ich kurz darauf zu Marino, als wir Maxwells hell erleuchtetes Haus hinter uns ließen.
»Ich nicht. Ich glaube, er lügt einem die Hucke voll, damit sein alter Herr ihm nicht die Scheiße aus dem Leib prügelt.«
Er schob den Heizungsregler zurück. »Diese Karre heizt schneller auf als alle, die ich bisher hatte. Fehlen nur noch beheizte Sitze wie in Ihrem Benz.«
Die letzte Bemerkung ignorierte ich. »So wie er die Stelle am See beschreibt«, fuhr ich fort, »kann er nie dagewesen sein. Ich glaube nicht, daß er die Süßigkeiten dort verloren hat, Marino.«
»Wer dann?«
»Was wissen Sie von einem Hausmeister namens Creed?«
»Ganz und gar nichts, verdammt noch mal.«
»Gut«, sagte ich, »dann sollten Sie ihn suchen. Und ich muß Ihnen noch etwas sagen. Ich glaube nicht, daß Emily die Abkürzung um den See genommen hat, als sie von der Kirche nach Hause ging.«
»Mist«, nörgelte er. »Ich hasse es, wenn Sie diese Tour fahren. Gerade wenn alle Dinge sich zu ordnen anfangen, schütteln Sie sie wieder durcheinander wie so ein blödes Puzzle in einer Schachtel.«
»Marino, ich bin den Weg am See selber entlanggegangen. Es ist unmöglich, daß ein kleines elfjähriges Mädchen - oder sonstwer - das tut, wenn es dunkel wird. Und gegen sechs Uhr, als Emily nach Hause ging, war es fast völlig dunkel.«
»Dann hat sie ihre Mutter angelogen«, sagte Marino. »Scheint so. Aber warum?«
»Vielleicht, weil Emily etwas vorhatte.«
»Und was?«
»Ich weiß nicht. Haben Sie Scotch in Ihrem Zimmer? Nach Bourbon muß ich Sie ja wohl
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