Bodycheck (German Edition)
schmächtiger als vor zehn Jahren.
«Du bist Bauarbeiter?» Simson wies auf Toralfs Arbeitshose.
«Dachdecker, ja. Entschuldigen Sie, ich komme direkt von der Baustelle, das lag auf dem Weg.»
«Das stört mich nicht. Arbeit adelt. Und du kannst mich gern duzen.»
Willy Simson war ein angenehmer Gesprächspartner. Toralf bemerkte nicht, wie Simson mit belanglosen Themen die Gesprächsführung übernahm. Als dann das Eis gebrochen war, kam Simson zur Sache.
«So, mein Junge. Was hast du denn nun auf dem Herzen? Was treibt dich so viele Jahre nach der Jugendweihe zu einem alten Mann wie mir?»
«Damals gingen so Gerüchte um, warum Sie … ich meine, du ins KZ gekommen bist.»
Simson nickte. «Sie haben mich eingelocht, weil ich homosexuell war – und das bin ich immer noch.»
«Und deswegen bin ich hier.»
«Aber heute kommt man deswegen nicht mehr ins KZ. Und ich bin heute noch stolz darauf, dass unser Staat, die DDR, den Schwulenparagrafen früher als die BRD abgeschafft hat.»
«Ist das wahr?»
«Allerdings. Wir haben uns nicht mit viel Ruhm bekleckert, aber das ist wahr. Und ich bin stolz darauf.»
Simsons Agitationseinlage hatte Toralf aus dem Tritt gebracht, und einen Augenblick schwiegen beide.
«Bist du denn schwul?»
«Scheint so …», murmelte Toralf.
«Scheint es nur so oder ist es so?»
Nun erzählte Toralf seine Geschichte, die beim Schulfreund Ronny anfing und bei Manfred endete. Den dicken BMW-Fahrer ließ er aus.
«Diesen Manfred kann ich gut verstehen. Wenn ich vierzig Jahre jünger wäre, hätte ich mich auch an dich herangemacht.» Willy Simson lachte. «Toralf, im Gegensatz zu mir haben dein Manfred und du einen großen Vorteil. Euch steht nicht das Wort ‹schwul› ins Gesicht geschrieben. Ihr seid Männer, groß, kräftig und entsprecht nicht dem Klischee.»
«Ja, genau das ist es. Entschuldige, wenn ich das so sage, aber der schmächtige, tuntige Typ ist für mich völlig unerotisch.»
«Na, dann such dir doch einen anderen Kerl. Macht doch einfach, was euch gefällt. Und nimm verdammt noch mal keine Rücksicht auf die Deppen bei dir im Dorf. Irgendwann bist du so alt wie ich, und dann ist dein Leben vorbei.»
«Ich weiß, man lebt nur einmal. Ziemlich abgegriffener Spruch, ehrlich.»
«Als ich so alt war wie du, da kannte ich einen wie dich: groß, athletisch, muskulös. Wir hatten mal kurz was miteinander, aber wirkliches Interesse hatte er an mir nicht. Er wollte dazugehören und ging zur SS. So wie er aussah, nahmen sie ihn natürlich mit Kusshand. Später haben sie ihn mit einem Kameraden erwischt und sofort erschossen.»
Beide schwiegen einen Moment. Ein kaltes Kribbeln lief Toralf über den Rücken. Er schluckte.
«Niemand erschießt heute einen Schwulen, weil er Soldat oder Polizist geworden ist, und Dachdecker schon gar nicht. Also mach, was für dich richtig ist, und lass die anderen reden, was sie wollen.»
Über das Gespräch war die Zeit wie im Fluge vergangen. Willy Simson bestand darauf, dass Toralf zum Abendbrot blieb. Darüber hinaus bat er ihn um einen Gefallen: Toralf möge ihn zum Einkaufen begleiten. Neuerdings lungerten immer Halbwüchsige vor der Kaufhalle, die hätte man früher wegen Rowdytums drangekriegt. Toralf lächelte. Das sollte nun wirklich kein Problem sein.
Als die beiden sich der Kaufhalle näherten, standen dort noch die drei Jungs in Bomberjacke. Willy guckte scheu in die andere Richtung, aber Toralf griff ihn beim Arm und führte ihn direkt zu den dreien.
«Männer, ihr kennt den Willy Simson?»
Statt einer Antwort bekam Toralf ein Grölen zu hören.
«Passt auf, das ist mein Onkel. Wer ihn anfasst, kriegt es mit mir zu tun. Alles klar?»
Wieder das Grölen.
Toralf ließ Willy los und packte den mutmaßlichen Wortführer bei seiner Jacke: «Du bist anscheinend der Chef hier. Ich mache dich dafür verantwortlich, dass deine Männer meinen Onkel in Frieden lassen.»
Der zum Chef Ernannte stammelte nur ein «Verstanden. Geht klar, Kamerad». Das Grölen erstarb, die drei warfen die Bierdosen in den Papierkorb und trollten sich.
Im Laden boxte Willy Toralf in die Seite.
«Das war ganz unglaublich! Kannst du nicht regelmäßig mit mir einkaufen gehen?»
Willy nutzte die Gelegenheit, und Toralf schleppte vier prall gefüllte Einkaufstüten zurück in den Wohnblock. Dieses Mal nahmen sie den Fahrstuhl. Willy Simson lud telefonisch noch einen alten Freund ein. Er stellte ihn als ‹Jugendfreund› vor, den Namen vergaß Toralf
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