Bodyfinder - Das Echo der Toten
Mund.
Als die Jungs an ihnen vorbeigingen, blickte einer zu ihr auf, er mochte dreizehn oder vierzehn sein. Mit dem schwarzgefärbten Haar und der fahlen Haut wirkte er kränklich. Doch in dem Sekundenbruchteil, als ihre Blicke sich trafen, spürte Violet eine Brutalität von ihm ausgehen, dass es wehtat. Ihr Mund schien in Flammen zu stehen. Sie schnappte nach Luft.
Und mit einem Mal tauchte ein Bild in ihrem Kopf auf. Violet sah diesen Jungen vor sich, wie er kaltblütig kleine Tiere tötete.
Doch er war nicht derjenige, den sie suchte.
Violet musste wegschauen, sie schloss die Augen, als er an ihr vorbeiging.
»War er das?«, fragte Jay.
Violet nickte nur und wartete, bis die Übelkeit in ihr nachließ.
Jay legte den Arm um sie und führte sie aus dem Einkaufszentrum hinaus zum Auto.
Schweigend fuhren sie nach Hause – Jay war zu aufgebracht und Violet zu erschöpft. Es kam ihr so vor, als hätte sie dem Bösen ins Auge geblickt.
Sie wusste, dass sie das nicht noch mal durchstehen konnte, einfach aufs Geratewohl nach einem Mörder zu suchen. Dafür war das Erlebnis zu schrecklich gewesen.Sie war es gewohnt, sich vor solchen Gefühlen zu schützen, sie hatte Mauern errichtet, um derart intensive Wahrnehmungen auszublenden.
Wenn sie es noch einmal versuchen wollte, brauchte sie eine bessere Strategie, so viel war klar.
12. KAPITEL
Nach dem Verschwinden von Hailey McDonald war die Stimmung an der Schule noch gedrückter als nach den ersten beiden Fällen. Violet führte das darauf zurück, dass Hailey für die meisten nicht nur irgendein Mädchen war, das sie mal auf einer Party gesehen hatten. Viele kannten sie persönlich. Hailey war die Schwester einer Mitschülerin. Ihre Abwesenheit war fast greifbar.
Die Sicherheitsmaßnahmen in der Schule waren deutlich verschärft worden. Nicht nur, dass unbewaffnete Sicherheitsleute das Schulgelände im Auge behielten, auch zwei uniformierte Polizisten waren ständig präsent.
Die Trauerbegleiter waren ebenfalls wieder da, was Violet ein wenig voreilig fand. Es konnte ja immerhin sein, dass Hailey McDonald noch gefunden und heil nach Hause gebracht wurde.
Violet hatte sich dafür entschieden, ihre Sorgen lieber für sich zu behalten. Wenn sie sich jemandem anvertrauen wollte, dann Jay. Doch der redete immer noch nicht mit ihr.
Nach dem katastrophalen Sonntag im Einkaufszentrum hatte er sie zu Hause abgeladen und gerade noch so lange in der Einfahrt gewartet, bis sie das Haus betreten hatte. Als Violet ihn später am Abend angerufen hatte, war er nicht ans Telefon gegangen, und auch auf ihre E-Mails hatte er nicht geantwortet. Er war stocksauer und Violet wusste, dass er etwas Zeit brauchte, um sich wieder abzuregen.
Während ihrer ersten gemeinsamen Unterrichtsstunde am Montag blickte Jay stur nach vorn und tat so, als ob er konzentriert dem Lehrer zuhörte, dabei war er sehr darauf bedacht, nicht versehentlich in Violets Richtung zu gucken.
Das machte ihr nicht besonders viel aus.
Sie fand selbst, dass sie es in gewisser Weise verdient hatte. Ihr war inzwischen klar, dass sie sich wie eine Idiotin benommen hatte, als sie einem Mörder in der Toilette eines Einkaufzentrums allein gegenübertreten wollte.Deshalb ließ sie Jays absichtliche Kränkungen nicht an sich heran.
Nach der letzten Stunde vor der Mittagspause wartete Grady vor dem Klassenzimmer auf sie. Froh darüber, dass ihre Begegnung diesmal ganz ungezwungen war, schlenderte Violet mit ihm in die Cafeteria. Als sie auf dem Weg dorthin an Jay vorbeikamen, blickte er nicht auf, aber Violet bemerkte, dass er in dem Moment, als er sie zusammen sah, die Fäuste ballte.
Und als sich Violet später zusammen mit Grady an ihren angestammten Platz setzen wollte, fehlte von Jay jede Spur.
So unauffällig wie möglich schaute Violet sich um und fragte sich, ob Jay heute mit jemand anders zu Mittag aß, doch er war nirgends zu entdecken. Sie ärgerte sich ein wenig über sich selbst, weil sie so enttäuscht war, ihn nicht zu sehen.
»Hi, Grady«, flötete Chelsea, als sie an den Tisch kam und sich zwischen Claire und Jules quetschte. »Schön, dass du uns mal die Ehre gibst.«
»Hi«, sagte Grady und nickte den anderen Mädchen am Tisch zu.
Es entstand ein peinliches Schweigen, das noch peinlicher wurde, als Chelsea ziemlich auffällig fragende Blicke in Violets Richtung warf. Chelsea war ungefähr so subtil wie ein Presslufthammer. Letztendlich war es dannaber Claire, die alles noch schlimmer machte,
Weitere Kostenlose Bücher