Bodyfinder - Das Echo der Toten
dampfenden Kaffeebecher näher heran und legte die Hände darum, als würde sie aus der Wärme Kraft schöpfen. »Nein«, brachte sie krächzend heraus. Dann räusperte sie sich und nahm einen neuen Anlauf. »Nein, dein Onkel Stephen hat ihn vor einer halben Stunde abgeholt.«
Nach kurzem Zögern ging Violet zum Schrank und griff nach ihrer Lieblingstasse, einem Keramikbecher mit einem verblassten Bild der Golden Gate Bridge drauf. Den hatten ihre Eltern aus einem Urlaub mitgebracht, als Violet noch nicht auf der Welt war. »Wieso?«, fragte sie, während sie sich Kaffee einschenkte und Sahne mit Vanillearoma aus dem Kühlschrank holte. Sie goss sie großzügig dazu, bis der Kaffee milchigbraun aussah.
Als ihre Mutter nicht sofort antwortete, drehte Violet sich zu ihr um. »Was ist?«
Ihre Mutter seufzte, auf einmal wirkte sie alt und müde. Sie schüttelte nur den Kopf, ehe sie mit gepresster Stimme sagte: »Es ist ein weiteres Mädchen verschwunden. Aus Buckley. Sie war auf eurer Schule.«
»Wer?« Violet hielt sich erschrocken eine Hand vor den Mund.
»Mackenzie Sherwin. Sie ist etwas jünger als du.«
Violet erstarrte.
»Ist das eine Freundin von dir?«, fragte ihre Mutter und legte ihre Hand auf Violets. »Sie war gestern auf einer Party, und dann wurde sie nicht mehr gesehen. Kennst du sie?«
Violet sank auf den Stuhl. Sie wusste, dass sie ihrer Mutter erzählen musste, dass sie auch auf dieser Party war. Es hatte keinen Sinn zu lügen. Ihre Eltern würden ohnehin herausbekommen, wo sie letzte Nacht gesteckt hatte.
»Ich hab sie gestern Abend gesehen«, gab Violet zu. Sie hob den Blick und sah ihre Mutter an. »Ich war auf derselben Party.«
Violet beobachtete das Mienenspiel im Gesicht ihrer Mutter. Erst aufkommender Ärger, als sie begriff, dass ihre Tochter sie angelogen hatte, dann eine Spur von Panik bei der Vorstellung, dass es auch Violet hätte treffen können,schließlich Erleichterung. Sie blinzelte und nahm Violets Geständnis kommentarlos hin. Doch Violet wusste, dass ihre Mutter nur im Moment nichts dazu sagte, dass die Vorwürfe noch kommen würden.
»Sie haben einen Suchtrupp losgeschickt. Es ist nicht auszuschließen, dass sie in der Nacht einfach weggegangen ist und sich verlaufen hat. Nach allem, was die Leute berichten, scheint sie ziemlich viel getrunken zu haben.«
In Violets Kopf tauchte das Bild von Mackenzie auf, wie sie sich ins Gebüsch übergeben hatte. Als Violet sie das letzte Mal gesehen hatte, konnte sie kaum gerade gehen.
»Und wenn sie sich nicht verlaufen hat?«, fragte Violet und bereute die Frage, kaum dass sie heraus war.
»Auch das ist nicht auszuschließen. Sämtliche Polizisten der Gegend suchen nach Spuren, und die halbe Stadt ist auf den Beinen. Alle durchkämmen das Waldstück um das Haus der Hildebrands.« Ihre Mutter drückte ihre Hand.
»Ich zieh mich an und fahre rüber«, sagte Violet.
Erschrocken blickte ihre Mutter auf. »Nein, Vi. Bleib heute lieber hier …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, aber Violet wusste, was sie meinte: hier, wo dir nichts passieren kann.
Doch die Vorstellung, untätig zu Hause herumzusitzen und zu warten, war ihr unerträglich. Sie wollte etwas Sinnvolles tun.
»Nein, Mom. Ich muss mit Onkel Stephen reden. Vielleicht kann ihm ja irgendwas, was ich gesehen habe, bei der Suche nach Mackenzie helfen.« Sie hoffte, ihre Mutter überzeugen zu können. »Keine Angst, Dad ist ja da. Ich tue nichts ohne seine Erlaubnis.«
Ihre Mutter schwieg und Violet hielt den Atem an. Was würde jetzt kommen?
Als ihre Mutter schließlich etwas sagte, klang es unsicher und resigniert. »Mir wäre wohler, wenn Jay dich begleiten würde.«
Mir auch, dachte Violet im Stillen. Mir auch.
Als Violet in die Straße einbog, die zum Haus der Hildebrands führte, war sie überrascht, wie viele Menschen sich an der Suche nach Mackenzie Sherwin beteiligten. Neben unzähligen Polizisten und Feuerwehrleuten war auch eine ganze Reihe von freiwilligen Helfern dabei.
Nachdem Violet sich einen ersten Überblick verschafft hatte, beschloss sie, ihren Vater und ihren Onkel zu suchen.
Sie arbeitete sich zum Zentrum des Geschehens vor. Dort gab eine Frau neonfarbene Westen aus, während eine andere die Namen der Helfer notierte und sie in Gruppen einteilte. Jeder Gruppe wurde ein Leiter zugewiesen,der ein Funksprechgerät bekam. Ein Mann mit Megafon wies die Leute an, wie vorgegangen werden sollte. Alle erhielten die Kopie eines Schwarzweißfotos von
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