Böse Dinge geschehen
dann sagt er: ›Ich bin ein alter Römer, nicht ein Däne.‹«
»Er ist in Wirklichkeit kein Römer, er ist ein Däne«, erklärte Shan. »Hamlet ist auch ein Däne. Es sind alles Dänen.«
»Auf diese Weise vermittelt er, dass er sich umbringen will«, sagte Elizabeth. »Es ist eine Frage der Loyalität. Wenn ein römischer Edelmann getötet wurde, begingen seine Gefolgsleute manchmal Selbstmord. Es war eine Frage der Ehre. Horatio verspürt die gleiche Loyalität Hamlet gegenüber.«
Owen McCaleb nickte. »Also bringt er sich um?«
»Er versucht es. Hamlet bremst ihn. Aber das ist die Bedeutung der Zeile. Auf diese Weise erklärt Horatio seine Absicht, sich umzubringen.«
»Das aufgeschlagene Buch soll also eine Art Abschiedsbrief sein«, sagte McCaleb und ging im Büro auf und ab. »Aber Sie glauben, Kristoll hat sich gar nicht umgebracht. Was wir hier haben, ist also ein Mord, der wie ein Selbstmord aussehen soll. Und einen Mörder, der Shakespeare zitiert.«
McCaleb erreichte die Tür und drehte sich um. »Und das Opfer |67| ist ein Mann, der eine Literaturzeitschrift verlegt. Ein Mann, der, davon müssen wir ausgehen, eine Menge Leute kannte, die in der Lage sind, Shakespeare zu zitieren. Ein Mann, der in Ann Arbor wohnte – in einer Stadt, in der man, wenn man einen Latte Macchiato bestellt, ihn von jemanden gereicht bekommt, der
Hamlet
gelesen hat.« Plötzlich blieb er stehen. »Wir sollten nichts überstürzen. Eakins hat die Leiche?«
»Ja«, antwortete Elizabeth.
»Wir werden sehen, was die Autopsie ergibt«, sagte McCaleb. »In der Zwischenzeit bleibt Kristolls Büro versiegelt. Und niemand redet mit der Presse. Ich habe bereits von einer Reporterin bei den
News
gehört. Sie wollte wissen, ob es einen Abschiedsbrief gab. Wir sollten unsere Shakespeare-Theorie für uns behalten.«
Zu Hause legte Elizabeth ihren Mantel, ihre Waffe und ihr Handy ab. Sie ließ Wasser aufkochen und machte sich eine Tasse Kräutertee. Sie nahm sie mit ins Wohnzimmer, wo leise der Fernseher lief. Ihre Tochter Sarah lag schlafend auf der Couch – ein schlaksiges, fünfzehnjähriges Mädchen mit glattem schwarzem Haar wie ihre Mutter. Sie schlief wie ein Mädchen auf einem Gemälde auf der Seite, ihre Hände lagen gefaltet unter ihrer Wange.
Elizabeth stellte ihren Becher auf einen Beistelltisch und schaltete den Fernseher aus. Sie griff nach einer Steppdecke, um ihre Tochter zuzudecken, aber genau in dem Augenblick regte sich das Mädchen.
»Du solltest im Bett sein«, sagte Elizabeth.
»Ich habe auf dich gewartet.«
Elizabeth nahm am Ende der Couch Platz, Sarah drehte sich auf den Rücken und legte die Beine über den Schoß ihrer Mutter.
»Ich habe Nachrichten gesehen«, sagte das Mädchen. »Da kam eine Meldung über einen Mann, der aus dem Fenster gefallen ist. Ist das der Grund, warum du so spät kommst?«
|68| »Genau.«
»Er ist fünf Stockwerke herabgestürzt. Das muss scheußlich gewesen sein.«
»Du solltest im Bett sein.«
»Sie waren ziemlich zurückhaltend, haben nicht klar gesagt, dass er gesprungen ist.«
»Sie wissen es nicht. Es gab keine Zeugen.«
Eine Pause. Elizabeth probierte ihren Tee.
»Defenestriert«, sagte Sarah. »So nennt man das, wenn jemand aus einem Fenster gestoßen wird.«
»Es steht nicht mit Sicherheit fest, dass er gestoßen wurde.«
»Aber es hätte so sein können. Glaubst du, dass es so war?«
»Ich werde es dir sagen, aber du musst versprechen, mit niemanden darüber zu reden.«
»Ich verspreche es.«
»Es ist möglich, dass Tom Kristoll aus dem Fenster gestoßen wurde.«
»Gibt es schon Verdächtige?«
»Dazu ist es zu früh.«
»Was ist mit seiner Frau? Hat er eine Frau?«
»Ja.«
»Hast du mit ihr gesprochen?«
»Ich habe sie heute Abend gesehen, sehr kurz«, sagte Elizabeth. »Sie ist gekommen, um den Toten zu identifizieren.«
»Aber du hast sie nicht verhört.«
»Das war nicht der richtige Zeitpunkt. Sie war nicht in der Verfassung, Fragen zu beantworten. Und sie hatte ihren Anwalt dabei.«
»Das sind ja gleich zwei Treffer.«
»Wieso denn das?«
»Sie ist die Frau, und wenn ein Mann ermordet wird, muss man die Frau verdächtigen. Und dann hat sie sich auch noch einen Anwalt genommen.«
»Ich weiß nicht, ob sie sich ihn extra genommen hat«, sagte |69| Elizabeth. »Mrs Kristoll ist Professorin, und ihr Mann war Verleger. Manche Leute müssen sich gar nicht erst einen Anwalt nehmen – sie haben schon einen, so wie sie Leute haben, die
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