Böse Dinge geschehen
Fenster und sieht, dass das nichts taugt. Er lässt das Fenster offen und geht aufs Dach.«
»Und springt von einer Stelle aus, die zufällig direkt über diesem Fenster liegt.«
»Warum nicht?«, sagte Shan.
»Du bist nicht da oben gewesen. Die Mauer an der Vorderseite des Gebäudes hat einen schrägen Abschluss. Das gehört zum Design. Auf der Rückseite ist sie ganz eben – viel besser zum Springen.«
Elizabeth machte eine Pause und schüttelte den Kopf. »Er ist nicht vom Dach gesprungen. Er ist durch dieses Fenster. Aber wenn ich recht habe, dann ist er gestoßen worden. Zuerst getötet oder bewusstlos geschlagen. Man hätte erhebliche Probleme, wenn er bei Bewusstsein wäre und Widerstand leisten würde. Man würde ihm einen Schlag auf den Kopf geben und hoffen, dass die Verletzungen beim Aufprall die Wunde verbergen. Mit ein bisschen Glück würde es als Selbstmord durchgehen.«
Die beiden standen schweigend da. Durch das offene Fenster drangen Straßengeräusche herauf. Die kühle Luft wurde kälter. Shan sagte: »Wer ist er eigentlich?«
Elizabeth sah auf. Sie hatte auf die Gläser in der Schublade gestarrt. »Da weißt du genauso viel wie ich. Er ist der Verleger einer Zeitschrift.«
»Nicht Kristoll. Der Mann, der ihn getötet hat. Angenommen, es war ein Mann, denn eine Frau hätte viel größere Schwierigkeiten, ihn aus dem Fenster zu stoßen. Du hast dir den Modus Operandi überlegt, vielleicht hast du ja auch schon einen Verdächtigen vor Augen.«
»Nein«, sagte sie. »So weit bin ich noch nicht.«
»Ich kann dir vielleicht etwas über ihn erzählen. Ich glaube, er ist ein Shakespeare-Fan.« Shan zeigte auf ein Buch auf dem Schreibtisch. »Das sind die
Gesammelten Werke
, aufgeschlagen |65| ist die letzte Szene im
Hamlet
– die, in der alle sterben. Bevor du kamst, habe ich gedacht, dass Kristoll das gelesen hat, bevor er gesprungen ist. Aber wenn er ermordet worden ist, dann hat vielleicht der Mörder das Buch dort hingelegt und die Seite aufgeschlagen.«
Elizabeth beugte sich über das Buch. »Hast du ein Foto davon gemacht?«
»Ein halbes Dutzend.«
»Und dieser Kuli lag hier. Du hast nichts verändert.«
»Ein wenig kannst du mir schon vertrauen, Lizzie.«
»So wie er daliegt – er zeigt auf eine bestimmte Zeile.«
Shan nickte. »Das habe ich gesehen. Es ist etwas, das Horatio sagt. ›Ich bin ein alter Römer, nicht ein Däne.‹ Ich habe das in der Highschool gelesen. Ich sollte eigentlich wissen, was das bedeutet.«
Elizabeth machte einen Schritt zurück und strich die rabenschwarze Haarsträhne zur Seite, die ihr ins Gesicht gefallen war. »Wir sollen glauben, dass das die Botschaft eines Selbstmörders ist.«
Owen McCaleb, der Polizeichef von Ann Arbor, war drahtig, gut aussehend und vierundfünfzig Jahre alt. In einer Ecke seines Büros stand eine Tasche mit Golfschlägern, aber niemand im Dezernat hatte ihn je auf einem Golfplatz gesehen. Alle hatten ihn dagegen schon joggen gesehen. Er war der Typ Jogger, der immer in Bewegung bleibt. Bei einem Fußgängerüberweg vor einer Ampel tänzelte er auf der Stelle hin und her. Selbst drinnen stand er nie ganz still. Manchmal, wenn er mit Untergebenen sprach, wippte er auf den Fußballen.
Das machte er auch jetzt, als Elizabeth Waishkey und Carter Shan ihm von den Einzelheiten in Kristolls Büro unterrichteten. Shan war inzwischen bei dem Teil über
Hamlet
angelangt.
»Also, in dem Stück stirbt Hamlet«, sagte er.
»So viel weiß ich auch«, sagte McCaleb.
|66| »Sein Onkel, der König, hat einen Plan geschmiedet, um ihn zu töten. Der König bringt Laertes dazu, dass er sich mit Hamlet duelliert. Er gibt Laertes ein Schwert mit einer vergifteten Spitze. Aber wenn das Schwert nicht den gewünschten Erfolg hat, hat der König noch einen Plan B – er wird Hamlet einen Becher vergifteten Weines anbieten.«
»Die Details sind nicht so wichtig«, sagte Elizabeth.
Shan fuhr ungerührt fort. »Also ersticht Laertes Hamlet mit dem vergifteten Schwert. Aber Hamlet ersticht Laertes auch. Und Hamlets Mutter trinkt den Wein, weil sie nicht weiß, dass er vergiftet ist. Dann ersticht Hamlet den König –«
»Die Details sind nicht wichtig«, sagte Elizabeth noch einmal. »Das Entscheidende ist, dass Hamlet stirbt. Er bittet Horatio –«
»Horatio ist sein Freund«, unterbrach Shan sie.
»Er möchte, dass Horatio seine Geschichte erzählt«, fuhr Elizabeth fort. »Aber Horatio greift nach dem vergifteten Becher. Und
Weitere Kostenlose Bücher