Böse Freundin (German Edition)
«Du hast erst deine Freundinnen angelogen und dann mich und dann auch die Polizei.»
Celia nickte. Nicht der Schlaf war es, der ihre Eltern älter wirken ließ, sondern die Tatsache, dass man dabei ihre Augen nicht sah. Die Augen waren das Einzige, was nicht grau, schlaff oder faltig wurde; sie lenkten von dem ab, was Zeit und Schwerkraft bewirkten. Blieben die Augen verborgen, zeigte sich im Umfeld das ganze Ausmaß des Verfalls.
«Ein Grund, warum ich dir das nicht abnehmen kann, ist sicherlich, dass ich deine Mutter bin und dich liebhabe, aber das ist nicht der Punkt.» Noreen ließ ein müdes Lächeln sehen. «Ich war mit dabei, Celie. Ich kenne doch wohl meine eigene Tochter.»
Einen Moment lang starrte Celia ihrer Mutter wie gebannt in die Augen. Einen Moment lang geschah nichts, was sich nicht ungeschehen machen ließ. Was ihr als Nächstes einfiel, erschien ihr absolut logisch. Ein Argument, um ihren Standpunkt zu untermauern.
«Du kanntest deinen eigenen Sohn nicht.» Am liebsten hätte Celia die Worte auf der Stelle zurückgenommen.
Sie hätte noch etwas hinzufügen können. Es wäre genug Zeit gewesen. Dass ihr auch in den Tagen und Wochen danach nichts einfiel, war ein kläglicher Trost. Ganz gleich, wie oft sie die Szene in Gedanken wieder durchging, es wollte sich keine Silbenfolge einstellen, die die Wucht dieser sechs Worte hätte aufheben können.
Statt lastenden Schweigens hätte ein Geräusch den Moment untermalen müssen, in dem Celia aufging, wie sehr sie ihre Mutter verletzt hatte – etwas, das den Schock über eine Stichwunde mit der Endgültigkeit von zersplittertem Glas verband.
«Es tut mir leid», flüsterte sie.
Noreen schüttelte den Kopf.
«Es tut mir leid», sagte Celia noch einmal. «Das war gemein von mir. Es hat nichts mit –»
«In deinen Ohren klingt es sicher albern», sagte Noreen ruhig, «aber ich hatte ein bestimmtes Bild von mir. Das haben wir wohl alle, obwohl, bei dir ist es vielleicht anders, Celia. Jedenfalls, was mich betrifft … Ich habe gesehen, was mit Jem passierte, aber ich wollte nicht so eine Mutter sein, die ständig mit Vorwürfen ankommt.» Sie sackte in sich zusammen. «Wenn man seinem Kind Vorwürfe macht, nimmt man ihm so viel!»
Celia legte die Hand auf den Schreibtisch. «Ich wollte das nicht wieder aufwärmen.»
«Ach, das hast du doch gar nicht, Liebes», sagte Noreen. «Es geht nie weg. Mittlerweile ist es lange genug her, und ich kann es eine Zeitlang vergessen, aber es ist so ähnlich wie mit einem Bandscheibenvorfall oder einem ausgekugelten Knie. Es heilt nie mehr richtig. Und mit Djuna ist es das Gleiche. Vielleicht kannst du andere von dem überzeugen, was du sie glauben machen willst, aber für dich selbst wird das nichts ändern, nicht so, dass es dir hilft.»
«Mommy», sagte Celia.
Noreen blinzelte. «Ich bin wirklich froh, dass wir darüber gesprochen haben. Jammerschade, dass du schon gehen musst, aber du hast ja sicher noch eine Menge vor, und –»
«Bitte entschuldige», sagte Celia.
«Ach, wofür denn?», erwiderte ihre Mutter in einem Ton, als sagte sie auf Wiedersehen.
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6. Kapitel
Die schnellste Strecke nach Hause hätte Celia immer geradeaus und dann zweimal rechts durchs Stadtzentrum geführt. Stattdessen fuhr sie einen weiten Bogen, der weniger Erinnerungen barg, vorbei an Gebäuden, die zur industriellen Blütezeit von Jensenville als Lagerhäuser gedient hatten. Einer dieser Ziegelkadaver beherbergte jetzt die beiden Kunstgalerien des Ortes, getrennt nach Fotorealismus und Abstraktion – ästhetische Strömungen, die in einer Galerie vereint gewesen waren, bis das Paar, das sie führte, sich scheiden ließ. Celia war mit Huck bei einem seiner ersten Weihnachtsbesuche dort gewesen, als sie sich noch verpflichtet fühlte, ihm ein Unterhaltungsprogramm zu bieten. Sie hatten die Antiquitätengeschäfte, die Künstlerzeile und das historische Viertel abgeklappert, bis Celia die kläglich gescheiterten Versuche des Ortes, in neuem Licht zu erscheinen, leid war und bei Huck nicht mehr um jeden Preis Eindruck schinden wollte. Von da an beließ sie es bei abendlichen Restaurantbesuchen mit ihren Eltern und Wiederholungen von Filmen im Fernsehen, die Huck und sie sich in Chicago niemals angesehen hätten.
Schließlich erreichte sie den nordöstlichen Rand ihres Viertels. Ihre Eltern wohnten in der südwestlichen Ecke, näher am Stadtzentrum, doch Djuna hatte hier gelebt. Celia war es nicht
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