Böse Freundin (German Edition)
flüsterte sie. Sie weinte schon eine ganze Weile und hatte eben erst die perfekt in Reichweite stehende Taschentücherbox auf dem Schreibtischeck entdeckt.
«Celie», sagte ihre Mutter beschwichtigend. «Die Polizei hat den Wald abgesucht. Sie haben alles durchforstet und nichts gefunden.»
«Sie ist in ein Loch gefallen», wiederholte Celia, weil nur ein Loch erklären konnte, wieso Djuna im einen Moment noch da und im nächsten verschwunden gewesen war. Vielleicht ein Graben oder ein verlassener Brunnen. Das war Erwachsenenlogik, angewandt auf Kindheitsbilder, die nach so langer Zeit wieder in ihrem Gewahrsam waren. Besser bekam sie es nicht hin. «Danach haben sie ja nicht gesucht», wandte sie ein. «Sie haben nach einem Mann und einem Auto gesucht.»
«Celia, hör mir zu», sagte Noreen beschwörend, als gelte es, einem Kind die Angst vor der Dunkelheit auszureden. «Sie haben gesucht. Alle haben gesucht. Dein Vater, ich, wir alle haben jedes Grashälmchen umgedreht, hinter jeden Baum an der Straße und weiter drinnen im Wald geschaut. Wenn Djuna dort gewesen wäre –»
Der weiche Zug um Noreens Augen und Mund war eher noch stärker geworden. Celia konnte sich nicht erinnern, wann ihre Mutter sie zuletzt so überströmend liebevoll angesehen hatte.
«Du glaubst mir nicht», sagte sie. Sooft sie den Moment bisher in Gedanken durchgespielt hatte – diese Variante war nicht dabei gewesen, und sie verschlug ihr die Sprache.
«Du warst doch noch ein kleines Mädchen», brachte Noreen zur Entschuldigung vor. «Ein kleines Mädchen, das etwas Schreckliches mit sich selbst abmachen musste, weil seine Eltern –» Jetzt war es Noreen, die weinte; die Tränen hinterließen feuchte Spuren auf ihrer Bluse.
Celia sah zu dem Glasthermometer auf dem Schreibtisch. Die farbigen Kugeln schwebten an Ort und Stelle.
«Bei dir hatte ich wenigstens die Entschuldigung, dass ich noch nicht wusste, was ich tat», sagte Noreen kopfschüttelnd. «Bei dir war ich mit meiner Fachausbildung ja nicht mal zur Hälfte fertig.»
«Du glaubst mir nicht», wiederholte Celia; der Satz war ebenso an sie selbst wie an ihre Mutter gerichtet.
Noreen sah ihrer Tochter in die Augen. «Ich glaube, dass es das ist, was du glaubst», versicherte sie.
«Das ist nicht das Gleiche.»
«Ich kann es nicht glauben, Schätzchen. Nicht nach allem, was ich weiß.»
«Was kannst du schon wissen? Du warst nicht dabei!»
«Liebes, erinnerst du dich noch an dein Gespräch mit der Polizei?»
Celia schüttelte den Kopf.
«Ich schon», sagte Noreen. «Sie kamen zu uns nach Hause, ein Mann und eine Frau. Damals gab es überhaupt nur eine Polizistin in der Truppe, und sie hatte sich an dem Tag eigentlich krankgemeldet, aber sie haben sie hergeholt, weil sie meinten, dass mit euch Mädchen eine Frau sprechen sollte. Sie haben sich zu uns beiden an den Esstisch gesetzt und gefragt, ob du lieber allein mit ihnen reden möchtest, aber du hast gesagt, nein, du willst mich dabeihaben. Seit dem Moment, wo du heimgekommen warst, hattest du meine Hand nur losgelassen, wenn du auf die Toilette gegangen bist oder etwas gegessen hast. Den ganzen nächsten Monat musste ich bei dir am Bett sitzen bleiben und deine Hand halten, bis du eingeschlafen warst. Sie hatten ein paar Puppen und Spielzeugautos dabei. Du hast es ihnen so gut geschildert, wie du konntest, Celie, und du hast nicht gelogen. Ich wusste immer, wann du lügst, dann hast du das Kinn gereckt und hochnäsig geguckt, als wolltest du sagen: Untersteh dich, mir zu widersprechen. Und bei dem Gespräch warst du ganz und gar nicht so. Irgendwann haben sie dich nach etwas gefragt, was du nicht wusstest, und du hast angefangen zu weinen, weil du dachtest, wenn du ihre Fragen beantworten könntest, dann wären sie imstande, den Mann zu finden, der sie mitgenommen hat.»
Celia wartete, dass die Worte ihrer Mutter an einer Ecke in ihrem Hirn hängenblieben und ein Deckblatt beiseitezögen.
«Das weißt du alles nicht mehr?», fragte ihre Mutter.
Celia schüttelte den Kopf. «Ich weiß nur noch das, was ich dir erzählt habe. Fest steht, dass ich gelogen habe.»
Noreen schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. «Du hast dir das also alles ausgedacht. Den Mann, das Auto, die ganze Geschichte», sagte sie. Die Fingerbewegungen verzerrten ihr Gesicht. Celia sah feine Blutgefäße unter den blassen, geschlossenen Lidern ihrer Mutter, ein filigranes rotes Muster, das an die blauen Adern ihrer Hände grenzte.
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