Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
überhaupt nicht, wenigstens nicht gravierend, behelligen wird; ich zeige mich selbst an, und es gibt keinen Kläger; außerdem liegen keine oder außerordentlich wenige Indizien vor. Schließlich die eingewurzelte Idee von meiner geistigen Zerrüttung und sicherlich die Bemühungen meiner Verwandten, die diese Idee aufgreifen und jede für mich bedrohliche strafrechtliche Verfolgung abwenden werden. Ich führe dieses an, um unter anderem zu beweisen, daß ich bei vollem Verstande bin und meine Lage richtig beurteilen kann. Aber für mich werden diejenigen bleiben, welche alles wissen und mich ansehen werden, und ich – sie. Je mehr es sein werden, desto besser. Ob es mir Erleichterung bringen wird – ich weiß es nicht. Ich greife danach als dem letzten Mittel.
Noch einmal: Wenn bei der Petersburger Polizei gründlich nachgeforscht würde, so ließe sich vielleicht etwas finden. Die Eltern leben vielleicht heute noch in Petersburg. Sie werden sich bestimmt an das Haus erinnern. Es war hellblau. Ich werde nicht verreisen und einige Zeit (vielleicht ein oder zwei Jahre) mich ständig auf Skworeschniki, dem Gut meiner Mutter, aufhalten. Wenn nach mir verlangt wird, werde ich an jedem gewünschten Ort erscheinen.
Nikolaj Stawrogin
Das Lesen dauerte etwa eine Stunde. Tichon las langsam und einige Stellen vielleicht zweimal. Während dieser ganzen Zeit saß Stawrogin schweigend und reglos da. Seltsamerweise war der ungeduldige, zerstreute und irgendwie geistesabwesende Ausdruck, der den ganzen Vormittag auf seinem Gesicht gelegen hatte, fast verschwunden und hatte einer Ruhe und einer Art Aufrichtigkeit Platz gemacht, die ihn beinahe würdig erscheinen ließen. Tichon setzte die Brille ab und begann als erster, mit einer gewissen Vorsicht:
»Und könnte man an diesem Dokument einige Verbesserungen anbringen?«
»Wieso? Ich habe aufrichtig geschrieben«, antwortete Stawrogin.
»Vielleicht ein bißchen am Stil.«
»Ich vergaß, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß alle Ihre Worte vergeblich sein werden; ich werde meine Absicht nicht aufgeben; sparen Sie sich die Mühe, mir abzuraten.«
»Sie haben es nicht vergessen, mich darauf aufmerksam zu machen, schon vorhin, bevor ich zu lesen anfing.«
»Ganz gleich, ich wiederhole noch einmal: Wie triftig Ihre Einwände auch sein mögen, ich werde meine Absicht nicht aufgeben. Merken Sie sich, daß ich Sie mit diesem taktlosen oder taktvollen Satz – denken Sie, was Sie wollen – keineswegs dazu herausfordere, mir so schnell wie möglich zu widersprechen und mich zu überreden«, es klang, als hielte er es nicht aus und fiele plötzlich für einen Augenblick wieder in den alten Ton, aber gleich darauf lächelte er traurig über seine eigenen Worte.
»Ich könnte Ihnen ja gar nicht widersprechen oder gar Sie überreden, Ihre Absicht aufzugeben. Dieser Gedanke ist ein großer Gedanke, der christliche Gedanke kann sich gar nicht vollkommener ausdrücken. Weiter als bis zu dieser erstaunlichen Tat, die Sie sich vorgenommen haben, kann die Reue nicht gehen. Wenn es nur …«
»Wenn was?«
»Wenn es nur wirklich Reue und der wirklich christliche Gedanke wäre.«
»Das sind, wie mir scheint, nichts wie Spitzfindigkeiten; ist das nicht gleichgültig? Ich habe aufrichtig geschrieben.«
»Sie möchten sich absichtlich brutaler machen, als Ihr Herz fühlt …« Tichon wurde immer kühner. Das »Dokument« hatte ihn offenbar stark beeindruckt.
»›Machen‹? Ich wiederhole: Ich habe nichts ›gemacht‹.«
Tichon schlug rasch die Augen nieder.
»Dieses Dokument entspringt dem Bedürfnis eines tödlich verwundeten Herzens – verstehe ich recht?« fuhr er eindringlich und mit außerordentlicher Wärme fort. »Ja, es ist die Reue und das angeborene Bedürfnis nach Reue, das Sie überwältigt hat, und Sie haben sich auf einen bedeutsamen, einen unerhörten Weg begeben. Aber Sie scheinen alle, die das Geschriebene lesen werden, im voraus zu hassen und zum Kampf herauszufordern. Wenn Sie sich nicht geschämt haben, das Verbrechen zu bekennen, warum schämen Sie sich Ihrer Reue? Sollen sie mich doch ansehen, sagen Sie. Aber Sie, Sie selbst, wie werden Sie die anderen ansehen? Verschiedene Stellen Ihrer Schrift sind durch den Stil hervorgehoben: Sie scheinen an Ihrer eigenen Psychologie Gefallen zu finden, und jedes Detail ist Ihnen recht, nur um den Leser durch eine Gefühllosigkeit zu überraschen, die Ihnen keineswegs eigen ist. Was ist das anderes als eine vermessene
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