Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Herausforderung des Schuldigen an den Richter?«
»Wieso Herausforderung? Ich habe jede eigene Beurteilung eliminiert.«
Tichon sagte nichts. Seine bleichen Wangen bekamen sogar etwas Farbe.
»Lassen wir das«, sagte Stawrogin scharf. »Gestatten Sie mir, meinerseits eine Frage an Sie zu richten: Nun sind es bereits fünf Minuten, daß wir uns darüber« (er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Blätter) »unterhalten, und ich bemerke an Ihnen weder Widerwillen noch Verlegenheit … Sie sind, wie es scheint, nicht besonders heikel …«
Er brach ab und lächelte.
»Das heißt, Sie möchten, daß ich Sie so schnell wie möglich verachte und es auch zeige«, fuhr Tichon mit Bestimmtheit fort. »Ich werde Ihnen nichts verschweigen: Ich war entsetzt von der gewaltigen brachliegenden Kraft, die sich vorsätzlich in Gemeinheit vergeudet. Was das Verbrechen selbst angeht, so sündigen viele auf diese Weise, leben aber mit ihrem Gewissen in Ruhe und Frieden und halten das sogar für ein unvermeidliches Jugendlaster. Es gibt auch Greise, die sich so versündigen, zu ihrer Lust und Erquickung. Von solchem Grauen ist die Welt voll. Sie aber haben den ganzen Abgrund empfunden, in solchem Ausmaß geschieht das sehr selten.«
»Womöglich haben Sie nach dieser Lektüre auch noch Hochachtung vor mir bekommen?« fragte Stawrogin mit schiefem Lächeln.
»Darauf werde ich Ihnen nicht antworten. Aber ein größeres und schrecklicheres Verbrechen als Ihre Tat an dem Mädchen gibt es nicht und kann es nicht geben, das versteht sich von selbst.«
»Lassen wir das Wiegen und Messen. Ich bin einigermaßen erstaunt über Ihre Meinung von den Menschen und von der Gewöhnlichkeit eines solchen Verbrechens. Vielleicht leide ich keineswegs so sehr, wie ich hier geschrieben habe, und vielleicht habe ich mich wirklich in manchem selbst verleumdet«, fügte er unerwartet hinzu.
Tichon sagte wiederum nichts. Stawrogin hatte offenbar nicht vor zu gehen, im Gegenteil, er versank wieder für Sekunden in tiefe Nachdenklichkeit.
»Und diese junge Dame, wenn ich mir die Frage erlauben darf«, begann Tichon von neuem sehr schüchtern, »mit der Sie in der Schweiz gesprochen haben, wo befindet sie sich … im Augenblick?«
»Hier.«
Abermals Schweigen.
»Ich habe mich vielleicht vor Ihnen in manchem selbst verleumdet«, wiederholte Stawrogin beharrlich. »Übrigens, was bedeutet es schon, daß ich die anderen durch die Brutalität meiner Beichte herausfordere, wenn schon Ihnen die Vermessenheit aufgefallen ist? Ich werde sie zwingen, mich noch mehr zu hassen, das ist alles. Das wird mir Erleichterung bringen.«
»Bedeutet das, daß deren Haß Ihren Haß wecken soll und daß Sie hassend sich leichter fühlen würden, als wenn Sie ihr Mitleid ertragen müßten?«
»Sie haben recht«, Stawrogin lachte plötzlich auf. »Wissen Sie, es kann sein, daß man mich einen Jesuiten und einen bigotten Heuchler nennen wird, ha-ha-ha? Ist es nicht so?«
»Freilich wird es auch diese Meinung geben. Haben Sie vor, Ihre Absicht bald auszuführen?«
»Heute, morgen, übermorgen, was weiß ich? Jedenfalls sehr bald. Sie haben recht. Ich denke, daß es genauso kommen wird und daß ich es unerwartet, und zwar in einem besonders rachsüchtigen und haßerfüllten Augenblick, bekanntmachen werde, wenn ich sie am meisten hasse.«
»Antworten Sie mir auf eine Frage, aber ganz aufrichtig, nur mir, mir allein: Wenn jemand Ihnen das hier« (Tichon wies auf die Blätter) »vergeben würde, keiner von jenen, die Sie achten oder fürchten, sondern ein Unbekannter, ein Mensch, den Sie nie kennenlernen werden, stillschweigend, während er wortlos Ihre furchtbare Beichte liest, wäre Ihnen bei diesem Gedanken leichter zumute oder wäre es Ihnen gleichgültig?«
»Leichter«, antwortete Stawrogin halblaut und mit gesenktem Blick. »Wenn Sie mir vergeben würden, wäre mir wesentlich leichter«, fügte er unvermittelt, fast flüsternd, hinzu.
»Und Sie mir«, sprach Tichon bewegt.
»Und was? Haben Sie mir etwas getan? Ach, ist das die klösterliche Formel?«
»Willentliches und Unwillentliches. Jeder, der gesündigt hat, hat sich damit an allen versündigt, und jeder Mensch ist irgendwie an der Sünde der anderen mitschuldig. Eine vereinzelte Sünde gibt es nicht. Ich aber bin ein großer Sünder, vielleicht ein größerer als Sie.«
»Ich werde Ihnen die ganze Wahrheit sagen. Ich will, daß Sie mir vergeben, und mit Ihnen zwei oder drei andere, aber alle – alle
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