Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
und lehnen sogar die Moral grundsätzlich ab, vielmehr halten sie sich an das neueste Prinzip der allgemeinen Zerstörung um des positiven Endzwecks willen. Sie fordern über hundert Millionen Köpfe, um dem gesunden Menschenverstand in Europa sein Recht zu verschaffen, bei weitem mehr, als auf dem letzten Friedenskongreß gefordert wurden. In dieser Beziehung gehen Alexej Nilytsch weiter als alle anderen.«
Der Ingenieur hörte mit geringschätzigem und blassem Lächeln zu. Etwa eine halbe Minute lang schwiegen alle.
»Das ist alles dumm, Liputin«, sagte schließlich Herr Kirillow mit einer gewissen Würde. »Wenn ich Ihnen versehentlich einige Dinge sagte und Sie behalten sie, dann ist das Ihre Sache. Aber Sie haben kein Recht, weil ich niemals zu anderen rede. Ich verachte reden … hat man Überzeugung, ist für mich alles klar … aber Sie haben eine Dummheit gemacht. Ich spekuliere nicht über Dinge, die endgültig klar sind. Ich mag nicht spekulieren. Ich will nie spekulieren …«
»Und vielleicht tun Sie recht daran.« Stepan Trofimowitsch konnte eine Bemerkung nicht unterdrücken.
»Ich entschuldige mich Ihnen, aber nehme hier keinem übel«, fuhr der Gast erregt und sehr schnell fort. »Vier Jahre habe ich wenig Menschen gesehen … Ich habe vier Jahre wenig gesprochen, und allen aus dem Weg gegangen, wegen meiner Ziele, die sind jetzt egal, vier Jahre. Liputin ist dahintergekommen und macht sich lustig. Ich verstehe und beachte nicht. Man kann mich nicht leicht kränken, aber es ist ärgerlich, was er sich herausnimmt. Und wenn ich vor Ihnen meine Gedanken nicht sage«, schloß er unvermittelt und sah jeden von uns mit festem Blick an, »so keineswegs aus Angst, Sie denunzieren mich der Regierung; das nicht; bitte, denken Sie keinen Unsinn in dieser Richtung …«
Auf diese Rede wußte keiner mehr etwas zu entgegnen, wir sahen uns nur an. Sogar Liputin unterließ das Kichern.
»Meine Herren, es tut mir sehr leid«, Stepan Trofimowitsch erhob sich entschlossen vom Diwan, »aber ich fühle mich unwohl und angegriffen. Entschuldigen Sie mich.«
»Ach so, das ist, damit wir gehen«, Kirillow fuhr auf und griff nach seiner Mütze, »gut, daß Sie sagen, ich bin vergeßlich.«
Er erhob sich und trat mit treuherzig ausgestreckter Hand auf Stepan Trofimowitsch zu.
»Schade, daß Sie unwohl sind und ich kam.«
»Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei uns«, sagte Stepan Trofimowitsch, indem er ihm wohlwollend und gelassen die Hand schüttelte. »Ich verstehe, daß Sie, nachdem Sie nach Ihren eigenen Worten so lange im Ausland gelebt, um Ihrer Ziele willen die Menschen gemieden und Rußland vergessen haben, uns eingewurzelte Russen zwangsläufig mit Verwunderung betrachten müssen, und wir Sie ebenso. Mais cela passera . Ich habe nur ein Bedenken: Sie wollen unsere Brücke bauen und erklären im selben Atemzug, für Sie gälte das Prinzip der allgemeinen Zerstörung. Man wird Sie unsere Brücke nicht bauen lassen!«
»Wie? Wie haben Sie gesagt … Donnerwetter!« rief Kirillow verblüfft aus und lachte plötzlich auf die heiterste und unbeschwerteste Weise. Für einen Augenblick nahm sein Gesicht einen ganz und gar kindlichen Ausdruck an, der, wie mir schien, sehr gut zu ihm paßte. Liputin, entzückt über Stepan Trofimowitschs Bonmot, rieb sich die Hände. Und ich wunderte mich immer noch im stillen: Warum war Stepan Trofimowitsch so sehr über Liputin erschrocken, und weshalb hatte er, als er ihn hörte, ausgerufen: »Ich bin verloren!«?
V
WIR standen alle vier auf der Türschwelle. Es war jener Augenblick, da Gastgeber und Gäste sich noch beeilen, die letzten, besonders liebenswürdigen Worte zu wechseln, und dann in gegenseitiger Zufriedenheit auseinandergehen.
»Herr Kirillow sind heute deshalb die ganze Zeit so mißgelaunt«, begann plötzlich Liputin, bereits im Begriff, das Zimmer zu verlassen, gleichsam beiläufig, »weil sie mit Hauptmann Lebjadkin vorhin wegen seiner Schwester einen Zusammenstoß hatten. Der Hauptmann Lebjadkin pflegt nämlich sein wunderschönes Schwesterlein, die Verrückte, täglich zu peitschen, mit einer richtigen Kosakenpeitsche, jeden Morgen und jeden Abend. Alexej Nilytsch sind sogar in eine Wohnung im Hinterhaus umgezogen, um nichts davon mitzubekommen. Also, auf Wiedersehen.«
»Seine Schwester? Eine Kranke? Mit der Peitsche?« rief Stepan Trofimowitsch aus, als habe er selbst plötzlich einen Peitschenhieb abbekommen. »Welche Schwester? Welcher
Weitere Kostenlose Bücher