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Boese Maedchen sterben nicht

Boese Maedchen sterben nicht

Titel: Boese Maedchen sterben nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Harrison
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landeten in …
    Tammy, dachte ich, als ich das vertraute Gefühl spürte, mich im Bewusstsein von jemand anderem wiederzufinden - als stiller Beobachter, während Myriaden von erlebten Augenblicken durch die Gedanken des anderen schwirrten. Wenigstens befand sie sich diesmal nicht in einer brennenden Wohnung.
    Das Erste, was ich fühlte, waren weiche Laken um mich herum und dann Pauls Anwesenheit neben mir. Sein hektisches Bewusstsein hüpfte von Gedanke zu Gedanke und seine Nervosität färbte auf mich ab. Obwohl ich wusste, dass es sinnlos war, versuchte ich Tammy durch Willenskraft dazu zu bewegen, ihre Augen zu öffnen. Und sie tat es.
    Der Schreck darüber, dass es tatsächlich funktioniert hatte, durchfuhr mich bis ins Mark. Ich starrte auf das zu schmale Bett mit dem hochgestellten Kopfteil, den zweckmäßig wirkenden Einbauschrank, den ausgeschalteten Fernseher in einer hohen Wandhalterung und den breiten, hässlichen Tisch auf Rädern. Darauf standen ein riesiger Becher mit einem Strohhalm, der in die andere Richtung zeigte, und daneben eine einsame Genesungskarte. Draußen schien die Sonne, doch sie fiel nicht ins Zimmer, denn direkt vor dem offenen Fenster ragte eine Backsteinmauer auf. Ich konnte nicht sagen, ob wir uns im zweiten oder im dreißigsten Stock befanden. Am Rand meines Sichtfelds sah ich das verschwommene Blau, das darauf hindeutete, dass dieser Moment erst in einigen Tagen passieren würde. Als ich versuchte, alles noch ein wenig deutlicher zu sehen, blinzelte Tammy ein paarmal.
    Wo sind wir?, hörte ich Paul fragen - noch etwas, womit ich nicht gerechnet hätte. Aber Tammy schien ihn nicht bemerkt zu haben, denn sie reagierte nicht.
    Ich weiß nicht. Ein paar Tage in der Zukunft? Eine Woche? Aber viel weiter wohl nicht, schätzte ich.
    Dann vernahm ich einen weiteren Gedanken, klar und bestimmt: Ich sterbe.
    Mein Herz machte einen Satz und ich fühlte, wie Paul meine Hand fester umklammerte, als Tammy ihre über das Laken bewegte. Sie war furchtbar dünn, die Haut bleich und beinahe durchsichtig, und wirkte selbst zu schwach, um einen Schnürsenkel zuzubinden. Um ihr Handgelenk verlief ein Bluterguss, wo jemand sie anscheinend festgehalten hatte, und ihre Fingernägel waren in leuchtendem Rot lackiert, das sich grell von dem weißen Laken darunter abhob. Unser ganzer Körper tat weh und ich fragte mich, ob sie geschlagen worden war. Der blaue Nebel, der alles umgab, verhieß, dass wir uns nicht weiter als ein paar Tage in der Zukunft befanden.
    aber in so kurzer Zeit hätte sie niemals so viel abnehmen können. Ich fragte mich, warum diese Vision so klar war. Das alles hier musste Monate, vielleicht sogar Jahre in der Zukunft liegen.
    Ihr Atem hob mühsam unsere Brust und ich spürte, wie eine Träne Tammys Wange hinunterlief. In unserem Inneren konnte ich fühlen, wie ihr Pulsschlag unregelmäßig wurde und ein eigenartiges Kribbeln von ihren Zehen her aufstieg. Sie hatte gesagt, sie müsse sterben. Vielleicht lag sie damit gar nicht so falsch.
    Eine Welle von Wertlosigkeit durchströmte unsere gemeinsamen Gedanken, während durch das kleine offene Fenster in der großen Glasfront Verkehrslärm hereindrang. Sie war allein, doch das war nicht der Grund, aus dem sie weinte. Der Grund war Reue. Reue für Worte, die sie nie gesagt hatte, und Gedanken, die unausgesprochen geblieben waren, Reue für Dinge, die sie nie getan, Herausforderungen, die sie nicht angenommen hatte. Und erst jetzt, ganz am Ende, begann sie zu begreifen, was sie verloren hatte, indem sie alles Gute ignoriert und ihr Leben ohne Liebe gelebt hatte. Sie dachte an ihren Bruder, den sie so oft enttäuscht hatte, dass er schließlich aufgegeben hatte.
    Tammy, es wird alles wieder gut, dachte ich, in der Hoffnung, dass sie mich hören konnte. Es ist noch nicht zu spät!
    Doch nur Paul hörte mich.
    Unsere Brust krampfte sich vor Kummer zusammen, als sie an die Bilder dachte, die sie nie auch nur zu malen angefangen hatte, die Gedichte, die sie nach der ersten Zeile nicht weitergeschrieben hatte - aus Angst, was andere darüber denken würden. So viele Reisen, die sie nicht gemacht, Freunde, mit denen sie sich nie getroffen hatte, Chancen, jemanden glücklich zu machen, die sie nicht genutzt hatte. Sie hatte gedacht, sie würde dadurch stärker werden, doch es hatte nur nach und nach ihre Seele aufgefressen.
    »Ich wünschte …«, flüsterte sie und wandte ihren Kopf zum Fenster und zu der tristen Backsteinmauer dahinter.

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