Boese Maedchen sterben nicht
»Ich wünschte …«
Doch es war zu spät und ich spürte einen Kloß im Hals, als ein kleiner glitzernder Nebelhauch in einer Ecke des Zimmers sein charakteristisches Glühen annahm. Es war ein Schutzengel, der Sonnenstrahlen weinte, und ich fragte mich, ob er der Grund dafür war, dass diese Vision aus der fernen Zukunft so klar war.
Paul zuckte überrascht zusammen, und als Tammy plötzlich die Luft ausstieß, wusste ich, dass auch sie den Engel sah. Ist das ein Engel?, fragte Paul mich und ich schickte ein Ja zu ihm zurück. Warum weint er?, wollten Tammy und er gleichzeitig wissen.
»Weil dein Leben zu Ende ist«, antwortete der Engel mit einer hohen klirrenden Stimme, die mich an rauschendes Wasser erinnerte. Sie schien gleichzeitig vertraut und doch so anders als die von Grace.
Tränen rannen mir - uns - über die Wangen. Wir waren ein und dieselbe Person. »Du bist so schön«, hauchte Tammy, die den Engel offenbar wirklich sehen konnte. »Bist du meinetwegen hier?«
Die Hoffnung in ihrer Stimme versetzte mir tief in meinem Inneren einen Stich und der Engel schwebte vor ihr nieder und tauchte sie in seine Wärme, als sich im restlichen Raum Kälte und Dunkelheit ausbreiteten.
»Ich war immer bei dir«, erwiderte der Engel und lächelte unter seinen eigenen Tränen.
»Ich weiß. Ich habe dich gespürt«, sagte Tammy. »Glaube ich jedenfalls. Es tut mir so leid.« Sie holte wieder mühsam Luft und ihre Tränen ließen unseren gemeinsamen Blick verschwimmen.
»Was denn, mein Kind?«
Ihre blasse Hand hob sich und fiel dann wieder zurück. Sie wirkte unnatürlich, als sie mit der Handfläche nach oben auf dem weißen, verschlissenen Laken liegen blieb. »Ich bin weggelaufen. Ich meine, nicht nur von zu Hause und von Johnny und meiner Mutter, sondern vor allem. Ich hatte so viele Pläne. Ich hatte noch so viel vor und jetzt kann ich mich noch nicht mal mehr daran erinnern.«
Sie starb. Hinter ihr lagen sechstausend Sonnenaufgänge, eine Milliarde versendeter E-Mails, Tausende von Witzen, über die sie gelacht hatte, unzählige Augenblicke, die sorgfältig in ihrem Gehirn verstaut und doch zu nichts nutze waren, weil sie verlernt hatte, wie man liebte. Sie war noch immer dasselbe verängstigte Mädchen, dem ich vor ein paar Stunden hatte helfen wollen und das dachte, es sei vollkommen allein.
Der Engel schwebte noch ein bisschen tiefer und landete auf ihrer Handfläche. »Du musst jetzt tapfer sein«, sagte er weinend.
Eine Welle von Angst brandete in ihr auf und legte sich dann wieder. »Warum?«, flüsterte sie.
»Es wird wehtun.«
Die Angst kehrte doppelt so stark zurück und Tammy hielt den Atem an. Warum?, dachte sie und ihre Frage hallte in Pauls und meinem Bewusstsein wider.
»Ich bleibe bei dir. Ich gehe nicht, ehe es vorüber ist«, tröstete sie der Engel, so wie Eltern ihrem Kind versprachen, dass sie an seinem Bett sitzen bleiben würden, bis es eingeschlafen war. Die Wärme des Engels kroch Tammys Arm hinauf und nistete sich in ihrer Brust ein.
Sterbe ich jetzt?, fragte Tammy und ihre Gedanken schienen zu beben.
»Du bist schon gestorben. Liebes.«
Angst, diesmal meine eigene, erfüllte mich. Es stimmte. Tammy war tot. Sie hatte kein einziges Mal mehr Luft geholt, seit der Engel ihr gesagt hatte, dass es wehtun würde. Ich spürte Pauls Panik und versuchte, meine eigene Verzweiflung zu unterdrücken. Mit uns war alles in Ordnung. Wir waren nicht tot. Aber Tammy war es.
Was passiert jetzt mit mir?, fragte Tammy und ihre Gedanken erklangen jetzt klarer zwischen unseren eigenen.
Der Engel weinte noch immer. »Es tut mir leid«, sagte er und war wunderschön in seiner Trauer. »Ich wünschte, ich hätte es ändern können, aber ich war nur da, um dich zu beschützen. Ich hatte gehofft, dass deine Seele vor deinem Tod genesen und wieder zum Leben erwachen würde, doch es ist zu spät.« Seine Augen - zu hell, um sie zu erkennen - lagen fest auf Tammy und fanden mich, tief in ihrem Bewusstsein. Ist dies das Jetzt? Oder gibt es noch Hoffnung?
Was?, fragte Tammy, aber ich war diejenige, die zusammenzuckte. Er redete mit mir. Tammys Schutzengel redete mit mir. Er wusste, dass ich hier in Tammys Bewusstsein war. Und der Engel wusste nicht, ob das, was wir erlebten, wirklich geschah oder nur vielleicht. Mein Gott, hoffentlich nur vielleicht.
Ein Schatten verdunkelte das Fenster und es roch nach nassem Stein. Mein Herz begann zu rasen, als ich sah, wie der Schwarzflügel durch das offene
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