Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Böse Schafe: Roman (German Edition)

Böse Schafe: Roman (German Edition)

Titel: Böse Schafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Lange-Müller
Vom Netzwerk:
Training.
    Ach, Harry, ich kann nicht behaupten, daß ich Augen nur für dich gehabt hätte. Auch manch anderer machte eine gute Figur, und selbst die Klingsbrüder wirkten nicht so albern wie sonst; doch du warst einfach anbetungswürdig. Wie hoch deine Füße flogen und wie sicher du auf ihnen landetest, wie geschmeidig du dich in den Hüften wandest, wie präzise deine Arme aus den Schultergelenken vorschnellten und wie elastisch du den Oberkörper zurückbogst, mit welcher Kraft du in die Höhe sprangst, dich drehtest und dabei das Bein abspreiztest und sekundenlang über dem Boden zu schweben schienst. Es sah aus wie Tanz; und voller Respekt beugte jeder deiner Gegner, du nanntest sie »Partner«, sobald er auf dich zutrat, seinen Kopf, und noch demütiger verneigtest du dich, wenn er sich, selbstverständlich besiegt, du würdest sagen »erfahrener«, wieder von dir entfernte.
    Wieder wartete ich vor dem Karateclub Oyama auf dich, wieder fast ein halbe Stunde, und wieder kamst du mir entgegen, müde grinsend, das Haar noch feucht vom Duschen. Ich sah dich an, verzaubert wie im Sommernachts traum, als wäre ich Titania, Lysander und Demetrius in einer Person.
    Wir fuhren zu mir. Du ließest das Licht aus, legtestdich, ohne auch nur die Sandalen abzustreifen, auf deine Matratze und erhobst keine Einwände, als ich Friede, die sofort unter deine Bettdecke wollte, mit den Worten: das ist aber mein Platz, ergriff, in die Küche trug und, nachdem ich mir gleich am Kühlschrank ein paar Schlucke Wodka eingepfiffen hatte, die Tür hinter ihr schloß.
    Ich war bereit, alles zu vergessen, wollte einzig und allein bei dir sein, deinen manchmal säuerlichen, doch heute fruchtigen Atem riechen, deine etwas bittere Haut schmecken, deine breite, kaum behaarte Brust berühren, deine kräftigen Schultern, Arme, Beine, deinen Schwanz. Ich schämte mich für das, was ich ihm angetan hatte, und für meine Panik, die womöglich nichts anderes war als Feigheit, Hypochondrie, erbärmliches Rumhängen an meinem eh schon halb vergurkten, ohne dich völlig ereignislosen Leben. – Ereignislos – Los, war das nicht ein Synonym für Schicksal? Was also war mein Los? Und hatte ich nur eines? Nahm ich nicht jedesmal, wenn wir uns nahekamen, ein neues? Und waren in dieser Lotterie nicht selbst die Nieten Hauptgewinne? Gewann ich nicht immer, sogar, wenn ich verlor: Einmal die Angst vor dem Tod, beim nächsten Mal die Angst vor dieser Angst, dann wieder die Angst, keine Angst zu haben, also ohne Schutz und wenigstens darin dir gleich zu sein, bis wir noch gleicher wären, aber nicht mehr hier … Über solche Gedanken, falls man die von drei sturzgetrunkenen Wodkas befeuerten, wie eingesperrte Zwergmarder in der Düsternis meines Schädels herumflitzenden Rudimente schlichtester Psychopolemik so nennen kann, steigerte ich mich hinein in eine – allerdings heroische – LMAA-Stimmung, die ja wirklich besser war als die waschlappig-grämliche Weder-festhalten-noch-gehen-lassen-Paralyse, mit der ich uns wochenlang terrorisiert hatte. Ab jetzt wollte ich richtig lieben, selbst-, also furchtlos. Und das konnte ich doch bei keinem besser lernen als bei dir, oder? Ich wollte mich aus der Hand und dir die Verantwortung übergeben. Ich wollte, daß endlich mal wieder etwas los war – und du eben meins – mit großem L, wie Liebe. Ich wollte nie mehr klein und feige sein, und ich wollte einen Orgasmus.
    Du mußt gespürt haben, daß etwas anders war, oder wie früher, daß die Leidenschaft, mit der ich mich an dir erfreute, nicht gespielt war. Denn dein Gesicht glättete sich, was seltsamerweise dazu führte, daß du wacher wirktest, obwohl deine Augen geschlossen waren. Deine Lider zuckten, deine Lippen wurden weich und beweglich, so, wie es ihrer hübschen, vollen Form entsprach. Jetzt, da ich mich dieser Szene erinnere, verzeih, Harry, wenn ich das sage, ist mir, als hätte ich dich im Schnee gefunden und aufgetaut, dir meinen Atem eingehaucht, deine Glieder mit meinen warm gerieben; und du kamst tatsächlich zurück, aber nicht ganz. Ich wurde nach langem Kampf belohnt für unseren Eifer und hatte die Angst besiegt, doch nicht dich. Du schafftest es wieder, mich von der Palme zu holen, und dein »Pinocchio«, wie du ihn manchmal nanntest, hörte in meinen, nun wirklich nicht ungeschickten Händen auf zu lügen.
    »Ärgere dich nicht«, sagtest du, »für einen Sempai ist das Glück, sich beherrschen zu können, größer als das Glück

Weitere Kostenlose Bücher