Boeser Traum
im Gesicht. Sie guckt nur nach unten. Will nicht erkannt werden oder jemanden erkennen. Sie wechselt auf den Gehweg parallel zur StraÃe, guckt sich vorsichtig um. Niemand zu sehen. Kein Auto weit und breit. Sie lässt sich ausrollen, steigt schlieÃlich ab, schiebt das Rad auf die Wiese. Immer noch niemand zu sehen. Sie lässt einfach los, geht langsam weiter.
»Du darfst nicht hektisch aussehen. Verhalte dich ganz ruhig. Dann fällst du auch nicht auf«, hatte Emilia ihr eingebläut. Ganz langsam zieht sie ihr Handy aus der Hosentasche. Ein bisschen schade findet sie es ja schon. Aber es muss sein. Sie hebt einen Stein auf, legt das Handy auf den Boden und zertrümmert es mit mehreren harten Schlägen. Den Stein nimmt sie mit, um ihn später wegzuwerfen. Emilia war sich nicht sicher gewesen, ob man auch auf einem Stein Fingerabdrücke nehmen könne.
11:28 Uhr. Sie liegt perfekt in der Zeit und schlendert Richtung Bushaltestelle. Wie verabredet nimmt sie den Bus um 11:34 Uhr. Während sie einsteigt und mit einer Hand ihre Ferienbuskarte zeigt, putzt sie mit der anderen Hand die Nase. Der Fahrer soll sich an nichts von ihr erinnern können. Sie setzt sich in den hinteren Teil des Busses mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Vorne sitzen drei, vier Frauen, die miteinander reden. Ein Mann mit Hund und Spazierstock sitzt direkt hinter der hinteren Tür. Er liest in der Bild. Charlotta ist erleichtert. Niemand von denen wird sich später überhaupt daran erinnern, dass hier jemand zugestiegen ist. Erst recht nicht, wie dieser Jemand wohl ausgesehen haben mag.
Sie steigt am Friedhof aus, schlendert die StraÃe hinunter zum Hinterausgang. Dort wartet Emilia schon. Sie sieht verschwitzt aus, hat sich wohl ziemlich beeilt.
»Du siehst schlecht aus. Immer noch der Bauch?«, fragt Emilia leise â als könnten sie belauscht werden.
»Wird schon besser«, behauptet Charlotta schnell.
»Steig auf.«
Charlotta setzt sich auf die Querstange und Emilia biegt sofort in den Wald ab. Es wäre kürzer und schneller, auf der StraÃe zu fahren. Aber sie wollen auf keinen Fall gesehen werden. Zweimal stürzen sie fast, weil Emilia Schwierigkeiten hat, das Rad auf dem Waldboden im Gleichgewicht zu halten. Um kurz vor zwölf passieren sie das Klärwerk, um drei Minuten nach zwölf sind sie am Haus. Sie sprechen nicht miteinander. Langsam gehen sie in den Keller.
»Hast du an die Plastiktüten gedacht?«
Charlotta nickt und klopft auf ihre Hosentasche.
»Das Wasser steht da«, sagt Emilia überflüssigerweise.
Charlotta nickt wieder.
Beide gucken auf den Boden.
»Ich muss los«, sagt Emilia nach einem ewigen Augenblick.
»Ich weiÃ.«
Eine letzte feste Umarmung,
»Wann kommst du das nächste Mal?«, fragt Charlotta ängstlich.
»Sobald es irgendwie geht.«
Emilia geht die Treppe hoch, flüstert von oben »Wir schaffen das« nach unten, schlieÃt die Tür und dreht zweimal den Schlüssel um.
Sie tritt hart in die Pedale. Wie jeden Samstagmorgen ist ihre Mutter zum Einkaufen gegangen fürs Wochenende. Emilia will vor ihr zurück sein, damit die keine Fragen stellt, warum das Mädchen verschwitzt und fertig nach Hause kommt.
Sie erreicht die StraÃe, wird schneller.
»Arschloch«, brüllt sie, als ein Lkw sie viel zu dicht überholt. Der BMW -Fahrer, der in der rechten SeitenstraÃe steht, lässt den Lkw noch durch. Danach gibt er Gas, um links abzubiegen. Er hat die Radfahrerin gar nicht gesehen. Er erwischt sie frontal. Emilia knallt mit dem Kopf auf die Windschutzscheibe, wird wie eine Puppe über das Auto geschleudert, schmettert auf den Asphalt und bleibt am Randstein leblos liegen. Die StraÃe verfärbt sich sofort rot.
Kopfkino
C harlotta sitzt auf der Treppe, versucht nicht zu denken. Nicht an die kommenden Stunden, die Dunkelheit. Nicht an die vielen Spinnen, die bestimmt in den Ecken lauern. 12:17 Uhr. Ihre Eltern werden wütend sein. Ihr Vater wird ihre Mutter anblaffen: Warum hast du sie noch mit dem Rad weggelassen? War doch klar, dass sie zu spät kommt. Immer wieder wird er auf die StraÃe gehen und gucken, wo seine Tochter bleibt. Charlotta sieht es richtig vor sich. Seine Wut wird sich mit der Hitze drauÃen zu einer unangenehmen Mischung vermengen. Niklas wird auch schlechte Laune kriegen. Er hat schon eine saubere Hose und ein sauberes T-Shirt an und darf
Weitere Kostenlose Bücher