Boeser Traum
damit nicht mehr im Garten spielen. Fernsehen darf er aber bestimmt auch nicht. Charlotta beobachtet den Minutenzeiger auf ihrer Uhr. 12:30 Uhr. Jetzt vielleicht wird ihre Mutter die Blumen noch mal in eine Vase stellen, ihre Handtasche wieder weglegen und sagen, dass sie jetzt zu Mats geht. Vielleicht hat die Tochter ja dort Zeit und Raum vergessen.
Charlotta ist mit ihrer Vorstellung nahe an der Wahrheit. Niklas sitzt mit hellen Hosen mürrisch am Esszimmertisch und hat Gartenverbot. Uwe Brandt hat wütende Flecken im Gesicht. Claudine Brandt zückt ihr Handy und ruft die Tochter an. Sie weià genau, dass Charlotta immer, auch wenn sie nur um den Block fährt, ihr Handy dabeihat.
»Der gewünschte Gesprächsteilnehmer ist aktuell nicht erreichbar. The person you have called is temporarily not available.« Genervt drückt sie auf den kleinen roten Hörer. Erst jetzt sagt sie: Ich gehe mal eben zu diesem Mats runter.
Sie muss gar nicht klingeln. Was ihr auch ein bisschen unangenehm gewesen wäre. SchlieÃlich kennt sie die Eltern von Mats nicht, weià nur zufällig, wo er wohnt. Und es macht sich gar nicht gut, wenn man auf der Suche nach der Tochter bei wildfremden Leuten klingeln muss. Mats hockt vor der Garage und schraubt an seinem Skateboard.
»Hallo, Mats, ist Charlotta noch hier?«
Er steht auf, guckt Claudine Brandt überrascht an.
»Charlotta? Nein. Die ist nicht hier.«
»Aber sie war hier, oder?«
»Nein. Wieso? Was hätte sie denn hier machen sollen?«
Claudine Brandt wird ein bisschen kühl. »Du hast doch ihr Fahrrad repariert. Sie wollte es heute Vormittag Probe fahren und dann wieder zu dir bringen, falls es noch nicht ganz in Ordnung wäre.«
Mats schüttelt ganz vorsichtig den Kopf. Er spürt, irgendwas läuft hier gerade gar nicht gut für Charlotta. Aber wie soll er ihr jetzt helfen? »Da haben Sie wohl etwas falsch verstanden. Ich habe Charlottas Rad nicht repariert. Was war denn kaputt?«
»Das weià ich doch nicht.« Claudine Brandt schaut die StraÃe runter, als hoffte sie, dass ihre Tochter jeden Moment am Horizont auftaucht. Das Schweigen wird unangenehm.
»Ja, da habe ich dann wohl etwas falsch verstanden«, sagt Claudine Brandt leise. »Falls sie doch noch hier auftaucht, schickst du sie bitte sofort nach Hause, ja?«
Mats nickt. Beiden ist klar, dass dieser Fall sehr unwahrscheinlich ist.
»Sie ist nicht bei Mats. Warum auch? Der Junge hat überhaupt nichts an ihrem Rad repariert.«
Als Claudine Brandt das ihrem Mann mitteilt, sieht sie die eigene Enttäuschung in dessen Gesicht. Die Eltern haben sich schon oft über ihre Tochter geärgert. Dass sie jeden Morgen ewig duscht, dass ihre langen Haare permanent die Abflüsse verstopfen, dass sie immer erst auf den allerletzten Drücker für Klassenarbeiten lernt, dass sie jeden Cent in Klamotten und Musik investiert und rein gar nichts spart. Aber Charlotta hat sie noch nie belogen. Vielleicht hat sie nicht immer die ganze Wahrheit erzählt, aber so eine offene, absichtliche Lüge ist den Eltern bisher noch nicht aufgetischt worden. Die beiden gucken sich ratlos an.
»Ruf sie an«, sagt Uwe Brandt irgendwann.
»Habe ich schon. Mailbox.«
»Sie hat ihr Telefon ausgemacht?« Uwe Brandt guckt ungläubig.
Die Eltern sind überfordert. Jetzt schon.
Charlotta überlegt in ihrem Gefängnis gerade, ob die Eltern wohl ohne sie losfahren werden, als ihr Vater genau das vorschlägt.
»Komm, Claudine, wir fahren. Soll sie doch sehen, wo sie bleibt. Am liebsten wäre mir, sie hätte keinen Haustürschlüssel mitgenommen. Da könnte sie sich bis heute Abend in Ruhe überlegen, ob sie uns noch mal so anlügen will. Susanne freut sich total auf unseren Besuch. Wir haben sie ewig nicht gesehen. Wahrscheinlich hat sie einen himmlischen Kuchen gebacken und kocht gerade für das Abendessen. Wir können sie jetzt nicht sitzen lassen.«
Er steht auf, schnappt sich den Autoschlüssel.
»Und wenn ihr was passiert ist?«
»Dann hätten wir schon längst einen Anruf bekommen.«
Ganz kurz hat Claudine Brandt die Idee, die Polizei anzurufen. Zu fragen, ob es in der letzten halben Stunde einen Unfall mit einer jugendlichen Radfahrerin gegeben habe. Das wäre ihr bestätigt worden. Sie wären ins Krankenhaus gefahren und hätten Emilias Namen erfahren. Sie hätten erfahren,
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