Boeser Traum
nur, um die Freundin nicht alleine zu lassen.
Die Angst war groÃ.
Die Wut ist gröÃer.
Hektisch springt sie auf, legt sich auf den Boden und macht Sit-ups. Sie ignoriert, dass ihre Eingeweide sich immer noch wund anfühlen. Sie hat die Hände seitlich am Kopf und hebt den Oberkörper, immer und immer wieder. Sie nimmt die Beine in die Luft, macht weiter, hebt zusätzlich noch den Po vom Boden. Verbissen kämpft sie gegen den Schmerz. »Noch zwanzig«, sagt sie laut, als sie das Gefühl hat, alles in ihr sei hart und verkrampft. Bei den letzten beiÃt sie die Zähne auf die Unterlippe. Sie streckt sich nur ganz kurz, dreht sich um und beginnt mit Liegestützen. Irgendwann merkt sie erstaunt, dass sie angefangen hat zu weinen. Die Tränen tropfen vor ihr auf den Boden. Die Erschöpfung, die Wut, die Angst, die Schmerzen. Das alles will rausgeschwemmt werden. Sie liegt jetzt flach auf dem Boden, hat die Arme angewinkelt und hebt und senkt sie. Die Tränen laufen weiter. Doch der Knoten in ihr löst sich nicht. Im Gegenteil. Sie fühlt sich noch kleiner, noch nackter. Sie hätte nie gedacht, dass sie sich mit sich selber alleine so unwohl, so unsicher fühlt. Sie hat die Uhr längst abgenommen. Sie hatte dreimal innerhalb von sechs Minuten auf das Zifferblatt geguckt und geahnt, dass das nicht gut ist. Nun zieht sie sie aus der Tasche. Halb fünf. Erst.
Der Notruf geht um 12:23 Uhr bei der Polizei ein. Schwerer Verkehrsunfall mit einer Radfahrerin. Die Beamten informieren sofort Notarzt und Feuerwehr. Als sich um 12:32 Uhr der Arzt über Emilia beugt, muss er kurz die Augen schlieÃen. Er hat zwei Töchter im Alter von vier und sieben. Seitdem er selber Vater ist, kann er den Anblick von verunglückten Kindern kaum noch ertragen. Und in seinen Augen ist Emilia ein Kind. Ein fast totes Kind. Er ahnt, dass der Unterschenkel, der gesplittert aus der Jeans ragt, noch ihr geringstes Problem ist. Sofort macht er sich mit den Rettungssanitätern an die Arbeit. Dabei bemühen sich alle, Emilia so wenig wie möglich zu bewegen. Was in ihrem Kopf passiert ist, kann keiner sehen. Doch eine kleine Erschütterung könnte üble Folgen haben. Sie intubieren sie, legen mehrere Zugänge an Hand und Arm. Der Blutdruck spielt verrückt.
»Ganz ruhig, Kindchen, du schaffst das«, flüstert der Arzt. Natürlich kann Emilia ihn nicht hören. Aber es tut ihm selber gut, die Worte zu hören. Ãber Funk hat er schon den Helikopter angefordert. Es zählt jede Sekunde. Emilias Herzschlag wird langsamer. Ein Sanitäter zieht die nächste Ampulle auf und drückt sie in den Schlauch, der in ihrem Handgelenk verschwindet. Mehrere Autos haben gehalten. Menschen stehen in einiger Entfernung. Frauen halten sich die Hand vor den erschreckt geöffneten Mund. Als wollten sie es alle nicht sehen. Aber sie bleiben trotzdem und glotzen. Sind alle froh, dass sie da jetzt nicht liegen. »Die armen Eltern«, ist zu hören.
»Holt mir einen Sichtschutz. Ich kann diese Gaffer nicht ertragen«, raunt der Arzt. Es geht ihm nicht um Emilia, die angestarrt wird. Es geht um ihn selbst: Diese Gaffer sehen zu müssen, macht ihn krank. Und diese Wut lenkt ihn nur ab.
»Im Auto ist auch noch ein Verletzter«, hört er von der Polizei.
»Wird er innerhalb der nächsten zehn Minuten versterben?«, fragt der Notarzt, ohne die Augen zu heben.
»Sieht nicht danach aus.«
»Dann geht es ihm vermutlich besser als dem Mädchen hier. Er kann warten. Fordern sie noch einen Wagen an.«
Bad Vibrations
B in wieder da.« Dagmar Engels kämpft sich mit drei schweren Einkaufstaschen durch die Wohnungstür.
»Unten steht noch ein Kasten Wasser. Könnte den wohl mal jemand hinaufholen?«, ruft sie den geschlossenen Türen zu. Sie räumt die Lebensmittel in den Kühlschrank, findet einen geöffneten und angeschimmelten Joghurt und spätestens jetzt kriegt sie schlechte Laune.
Eigentlich hatte sie sich gefreut, hatte fröhlich Gemüse und Fleisch für einen feudalen Grillabend gekauft. Ihr Exmann war â nachdem er von Emilia und auch Sophie einen Korb bekommen hatte â alleine in die Stadt losgezogen und wollte um sechs wieder da sein. Sie hatten vor, sich einen richtig schönen Abend mit den Mädchen zu machen. Als Dagmar Engels das gerade am Telefon ihrem Freund Mark mitgeteilt hatte, war der wütend
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