Boeser Traum
niemand auf den Verlauf des Unfalls angesprochen. Noch niemand hat ihn überhaupt irgendetwas gefragt. Er schlieÃt die Augen, versucht an etwas anderes zu denken. Es gelingt ihm nicht. Wie auf einer Leinwand flimmern durch seinen Kopf die Bilder vom Unfall. Nicht der ganze Film. Immer wieder kurze Sequenzen. Ihr Gesicht auf der Windschutzscheibe. Das dumpfe Geräusch, als sie offenbar auf dem Autodach aufknallt, das Bersten von Glas, ihr völlig demoliertes Rad auf dem Asphalt, der sich immer noch drehende Hinterreifen, das viele Blut, die entsetzten Gesichter von Schaulustigen. Er hatte in ihren Gesichtern gesehen, dass sie Fürchterliches beobachten. Er hört noch mal die laut gebrüllten Anweisungen des Notarztes.
Er würde dem lieben Gott gerne irgendwas versprechen, wenn das Mädchen es schaffen sollte. Wenn es jetzt bloà nicht auf dieser StraÃe stirbt. Was kann das für ein Versprechen sein? Kein Alkohol mehr? Er ahnt, dass er das Versprechen nicht halten kann. Vielleicht eine Spende? Aber wahrscheinlich wird eh eine saftige Geldstrafe auf ihn zukommen. Er überlegt, ob er sich selber versprechen soll, seine GroÃmutter ab sofort jedes Weihnachten und zu jedem Geburtstag zu besuchen, und fühlt sich sofort schäbig. Was für ein mickriges Versprechen im Vergleich zu einem Menschenleben. Er ist froh, dass der Krankenwagen an der Liegendaufnahme hält und er von sich selber abgelenkt wird.
Er wird in einen kleinen Operationssaal geschoben. Röntgenbilder zeigen, dass sein Handgelenk gebrochen ist. Drei gröÃere Schnitte am Arm und auf der Hand müssen genäht werden. Gebrochene Rippen werden mit einem Korsett bedacht. Die Stelle, wo sich der Zündschlüssel in sein rechtes Knie gebohrt hat, sieht nicht gut aus. Doch es sind nur Weichteile verletzt. Das muss von alleine heilen. Was Torsten Schreiber nicht weiÃ: Natürlich wird sein Blut untersucht. Auch auf Alkohol. Und schon am Nachmittag wird er von der Polizei verhört werden. Doch davon ahnt er noch nichts.
Torsten Schreiber ist aus dem OP schon wieder raus, als Emilia in den groÃen Saal nebenan geschoben wird. Ein groÃes Team steht bereit: Chirurgie, Anästhesie, Neurologie, Neurochirurgie, Innere: Alle sind sie da. Sonographie, CT , Röntgen. Das ganz groÃe Programm läuft an. Die erste Diagnose bestätigt sich. Emilia hat einen Milzriss, der sofort behandelt werden muss. Die nächste Baustelle ist das Bein. Der linke Unterschenkel ist gesplittert, sämtliche Bänder sind gerissen. Am rechten Unterarm hat es Elle und Speiche durchtrennt, zumindest glatt. Um die Gesichtsverletzungen kümmert sich zunächst niemand. Emilias Gesicht sieht fürchterlich aus: Die Nase ist gebrochen, die Lippe ist aufgeplatzt, der Asphalt hat die Haut an vielen Stellen weggescheuert. Darum werden sich die Ãrzte später kümmern. Sie werden versuchen, dafür zu sorgen, dass Emilias Gesicht nicht entstellt bleibt. Aber erst mal müssen sie Emilia so weit kriegen, dass sie selber ihr eigenes Gesicht wieder sehen und als solches erkennen kann. Die ersten Bilder auf dem Computermonitor zeigen, dass ihre Wirbelsäule intakt ist. Es ist kein Bruch, keine Quetschung auszumachen. Aber etwas anderes zeigt sich: Emilia hat ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Wie schwer, kann noch niemand sagen. Keiner der Ãrzte wird eine Prognose abgeben. Sie werden warten müssen, bis Emilia wieder aufwacht. Wenn sie aufwacht.
Der Anruf ins Leere
W ährend Emilia operiert wird, tüftelt ein Spezialist der Polizei an ihrem Handy. Oder an dem, was davon noch übrig ist. Es ist erst vor einer halben Stunde gefunden worden. Es war bei der Wucht des Aufpralls aus ihrer Jeanstasche geschleudert worden, war offenbar mehrfach aufgeschlagen und am StraÃenrand liegen geblieben, und zwar in unzähligen Einzelteilen. Das Handy war bislang die einzige Möglichkeit für die Polizei, die Identität der Verletzten zu ermitteln. Emilia hatte ansonsten keinen Ausweis oder Ãhnliches bei sich gehabt. Ein Schlüsselbund, Kau gummis, eine Haarspange und eben das Handy: Mehr war nicht bei ihr gefunden worden. Ãber die SIM -Karte und den Telefonvertrag würden die Beamten ermitteln können, wer da unter die Räder gekommen war. Leider waren mehrere Fahrzeuge über die Telefonteile gefahren, was es dem Techniker nicht leichter machte. Parallel hatten die Beamten natürlich geguckt, ob
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