Boeser Traum
eine Vermisstenmeldung für eine ungefähr fünfzehnjährige Radfahrerin vorlag. Sie waren nicht überrascht, dass keine da war. Mädels in dem Alter werden meist am späten Abend als vermisst gemeldet. Wenn ein Jugendlicher vermisst wird, gehen die meisten Eltern zunächst mal davon aus, dass es sich um eine pubertäre Revolte handelt oder ihr Sprössling die groÃe Liebe getroffen hat. Meistens stimmt auch eines davon. Meistens.
Um kurz nach drei greift der Techniker zum Telefon â zu seinem Telefon. Er ruft den zuständigen Kollegen an und verkündet stolz: »Ich habe sie. Sie heiÃt Dagmar Engels.«
Markus Bernd weià sofort, dass das Mädchen niemals diese Dagmar ist. Mädchen in diesem Alter heiÃen nicht Dagmar. Der Telefonvertrag wird wahrscheinlich auf den Namen der Mutter laufen. Er sucht sich die Festnetznummer raus, wählt und legt sich in Gedanken schon mal die Worte zurecht. »Frau Engels, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Tochter heute einen Verkehrsunfall hatte.«
Er stockt. Nein. Halt. Er muss zuerst fragen, ob die Frau eine Tochter hat. Mit kurzen Haaren und einem roten Mountainbike. Hinterher hat die Frau für ihre Nichte oder Patentochter einen Handyvertrag abgeschlossen und die falsche Mutter bekommt einen Schock. Doch Markus Bernd überlegt ohnehin vergeblich. Er lässt es unzählige Male klingelnd â es geht niemand ran.
Dagmar Engels ist joggen gegangen. Dabei kann sie am besten überlegen. Und sie muss viel überlegen: ob sie auf Emilia sauer sein muss, weil die nicht Bescheid gesagt hat, wohin sie gefahren ist. Was sie beim Grillen heute Abend anziehen soll und was sie Mark mal simsen könnte, damit der nicht grundlos eifersüchtig ist. Sophie ist zwar in der Wohnung, hat aber wieder die Kopfhörer auf und hört das Klingeln des Telefons nicht. Markus Bernd guckt, ob ein zweites Handy auf den Namen angemeldet ist. SchlieÃlich ist es wahrscheinlich, dass die Mutter auch eins hat. Er wird nicht fündig. Dagmar Engels hat als Maskenbildnerin des städtischen Theaters ein Diensthandy. Und diese Nummer ist natürlich nicht im Telefonbuch verzeichnet.
Die Ãrzte im OP kämpfen fast schweigend. Sie müssen nicht viel reden. Jeder kennt seine Handgriffe. Trotzdem ist es laut. Die metallenen Werkzeuge klappern, das Beatmungsgerät pumpt, die Chirurgen müssen mehrere Löcher in Emilias Knochen bohren, um das linke Bein zu verschrauben. Mit monotoner Stimme wird permanent Blutdruck und Puls durchgegeben. Ãberall führen Schläuche in Emilia, andere führen aus ihr heraus. Blut flieÃt in beide Richtungen.
Um 16:28 Uhr wird die Operation beendet. Die Patientin wird auf die Intensivstation gerollt, die Ãrzte nehmen Mundschutz und Haarkappen ab, streifen langsam die blutigen Kittel ab. Sie wissen, sie selber haben alles getan, um das Mädchen zu retten. Wie stark Emilia beeinträchtigt sein wird, wissen sie erst, wenn das Mädchen die Augen wieder aufmacht. Wird sie sich erinnern? Vielleicht nicht an heute, aber an gestern oder zumindest vorgestern? Wird sie wissen, wer sie ist? Wird sie halluzinieren, stottern? Wird ihr Gehirn ihr diesen Aufprall verzeihen?
Erinnerung als Trostpflaster
H alb fünf erst. Charlotta stöhnt auf. Zu ihrem Entsetzen merkt sie, dass sie jetzt schon Hunger bekommt. Dadurch, dass sie in den letzten Tagen fast nichts gegessen hatte, hat sich ihr Magen schon verkleinert. Diesen Effekt kennt sich schon von mehreren Speed-Diäten. Sie hatte gehofft, dass sie ihr Hungergefühl so auch besser im Griff haben wird. Sie muss sich jetzt ganz schnell ablenken. An etwas denken, das ihr jetzt noch lieber wäre als eine Schale Pommes oder eine riesige Pizza. Sofort fällt ihr Mats ein. Der ist auch wirklich zum AnbeiÃen, denkt sie und muss tatsächlich ganz leicht grinsen. Sie lehnt sich mit dem Rücken an die Tür und macht die Augen zu. Sie versucht, sich zu erinnern, wann er ihr das erste Mal aufgefallen ist. Sie weià genau, wann das war. Aber diese Erinnerung hinauszuzögern, die Situation eins zu eins noch mal in Gedanken nachzuspielen, fühlt sich so gut an. Mats trainiert nach ihr in der Sporthalle. Er spielt Basketball. Sie hatte noch mit ein paar Mädchen vom Volleyball oben auf der Tribüne gestanden und gequatscht, als das Basketball-Training begonnen hatte. Mats war sehr ruhig aufs Feld gegangen. Er hatte das Trikot
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