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Boeser Traum

Boeser Traum

Titel: Boeser Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Schlieper
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Dagmar guckt lange drauf und flüstert dann.
    Â»Echt typisch, oder?«
    Michael nickt. »Feuer und Wasser eben. Und ich bin ja neuerdings Luft für dich.«
    Sie lächelt noch nicht mal über den schlechten Scherz, ignoriert ihn einfach.
    Â»Weißt du, was ich jetzt erst merke? Die beiden brauchen sich auch. Sie würden das niemals zugeben, aber ohne die andere wäre ihre Position nicht so klar, so eindeutig. Ich hoffe so, dass Sophie nicht zu viel Angst hat.« Dagmar legt die Arme auf den Tisch, den Kopf darauf.
    Eigentlich wollte Michael gerade sagen, dass Sophie seiner Meinung nach ruhig zu viel Angst haben darf. Sie soll nur nicht zu viel Wahrheit ertragen müssen. Den Satz erspart er Dagmar.
    Â»Komm, wir gehen wieder schlafen«, schlägt er vor.
    Sie erhebt sich müde, nimmt einen letzten Schluck Bier aus Michaels Flasche. »Darf ich in ihr Bett?«
    Er nickt.
    Michael Engels wartet, bis Dagmar hinter der Tür verschwunden ist. Dann holt er sich Bettzeug aus dem Schlafzimmer und legt sich auf die Couch. Er kann sich einfach nicht in sein altes Bett legen. Es ist ohnehin alles schon schwierig genug.
    Um halb sechs steht er auf. Auch auf der Couch hat die unangenehme Vergangenheit auf ihn gewartet. Erinnerungen, an all die Nächte, die er hier verbringen musste, weil Dagmar ihn aus dem gemeinsamen Schlafzimmer rausgeworfen hatte, waren wieder wach. Er sah die vielen Streitszenen vor sich. Am Anfang hatten sie noch diskutiert, geredet, sich gegenseitig mit Worten verletzt. Irgendwann hatten sie dann nur noch geschwiegen. Das war noch schlimmer gewesen. Jetzt, im Rückblick, hat er den Eindruck, dass sie sich aus Langeweile gestritten hatten. Es war einfach nichts mehr zu tun gewesen. Die Mädchen waren schon so oft ihre eigenen Wege gegangen. An gemeinsamen Aktivitäten am Samstag oder Sonntag hatten sie kein Interesse mehr. Die Wohnung war endlich fertig renoviert. Sie hatten die Altbauwohnung ziemlich runtergekommen gekauft und in jahrelanger Arbeit liebevoll hergerichtet. Als Architekt hatte Michael gute Kontakte, wusste, was zu tun war. Es hatte ewig gedauert. Aber irgendwann war jeder Raum individuell neu gestaltet, die Bäder waren neu, die Heizung. Es gab keinen Türrahmen mehr zu streichen, keinen Boden mehr abzuschleifen. Alle Möbel standen am richtigen Ort. Auch beruflich war es ruhiger geworden. Er musste nicht mehr am Sonntag an den Zeichentisch, Dagmar hatte endlich einen unbefristeten Vertrag beim Stadttheater. Und weil sie nichts mehr voneinander ablenkte, hatten sie sich auf sich selber konzentriert. Das war nicht gut gegangen. Oft schon hatte Michael an die Jahre vor den Kindern gedacht. Da hatten sie sich tagelang auf sich selbst konzentrieren können – mit Lust und Leidenschaft. Die war ihnen abhandengekommen. »Wie anderen Leuten ein Stock oder Hut«. Er weiß nicht, aus welchem Gedicht ihm diese Zeile in den Sinn kommt. Es schmerzt.
    Auch sein Rücken schmerzt. Die Couch ist nicht zum Schlafen gemacht. Er schaltet die Kaffeemaschine an, guckt auf den schönen Baum im Innenhof. Das Bild von Emilia an den Geräten im Krankenhaus schiebt sich vor sein Auge. Er hört fast das Piepen der Maschinen. Träumt sie vielleicht gerade? Oder ist in ihrem Kopf nur stumme Schwärze? Was wird sie sehen, wenn sie die Augen wieder aufwacht? Und wird sie erkennen, was sie sieht? Er traut sich an die Frage: Möchte er, dass sie die Augen wieder aufmacht, auch wenn sie nicht mehr Emilia ist? Wenn vielleicht alles in ihrem Kopf gelöscht ist? Keine Erinnerung mehr. Keine Sprache, kein Erkennen. Er holt tief Luft. Die Antwort ist ein klares JA. Auch wenn sie eine neue Emilia sein wird, sie ist seine Tochter. Er wird sie immer lieben. Diese Erkenntnis trifft ihn unerwartet. Es gibt nichts, was diese Liebe erschüttern kann.
    Er hat nicht gehört, dass Dagmar in die Küche gekommen ist, und erschrickt, als er das Klappern von Tassen hört. Er dreht sich um und starrt sie an. Sie sieht aus wie jeden Morgen. Die Haare stehen kreuz und quer vom Kopf ab. Sie trägt eine Boxershorts und ein weißes T-Shirt. Sie reibt sich mit einem nackten Fuß am anderen Bein. Auch diese Bewegung ist ihm so unendlich vertraut. Beide verzichten auf das »Guten Morgen«. Er ist es einfach nicht. Schweigend trinken sie ihren Kaffee. Beide versuchen, sich einen Anzug aus Stärke und Hoffnung überzustreifen.

Die Welt der kleinen Schritte
    A

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