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Boeser Traum

Boeser Traum

Titel: Boeser Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Schlieper
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Vater und Mutter, die zwei Meter voneinander entfernt sind und in Wirklichkeit viel weiter.
    Â»Was macht ihr hier?« Ein sehr verschlafener Niklas steht mit seinem riesigen Schlafschaf im Arm in der Tür. Er wartet keine Antwort ab. »Wo ist Charlotta?«
    Â»Sie schläft heute bei einer Freundin. Geh wieder ins Bett«, sagt Claudine so freundlich, wie es ihr gerade möglich ist.
    Â»Papa hat vorhin gesagt, dass sie gleich kommt.«
    Â»Papa sagt manchmal Dinge, die nicht stimmen.«
    Uwe richtet sich auf, starrt seine Frau an. Was soll das jetzt? »Komm, Nicki, ich bringe dich ins Bett«, schlägt er vor. Er hat das Bedürfnis, sich von seiner Frau zu entfernen.
    Â»Ich will in Charlottas Bett schlafen«, fordert Niklas.
    Das möchte ich auch – denkt Claudine. »Gut, leg dich hierhin«, lenkt sie ein. »Komm, ich decke dich zu. Papa geht schon mal runter.«
    Es ist ein Rauswurf und Uwe Brandt weiß das auch.
    Als Claudine Brandt später ins Wohnzimmer kommt, meiden beide das Thema. Sie wissen, dass sie beide gerade keinem Streit standhalten können.
    Halb zwei. Uwe ist wieder auf der Couch eingeschlafen. Er zuckt manchmal zusammen. Claudine ist leise aufgestanden. Aus dem Regal im Arbeitszimmer hat sie sich Fotoalben geholt. Sie musste zweimal gehen, so viele sind es. Sie sitzt vor dem Stapel und blättert sich durch die Baby- und Kleinkindzeit von Charlotta. Sie guckt nicht auf die albernen Frisuren und Kleider von sich, sieht immer nur das Kind. Erste Zähne, erste Zahnlücken. Dicker Babybauch und dicker Windelpo, plötzlich ein dünnes Mädchen mit langen Zöpfen. Sie glaubt sich an fast jede Situation noch erinnern zu können. Wie lange schon hat sie nicht mehr so intensiv an ihre Tochter gedacht?

Wenn aus Ruhe Stille wird
    H alb zwei – ein paar Kilometer Luftlinie von den Brandts entfernt. Auch Dagmar ist wach. Sie ärgert sich, dass sie ihrem Exmann erlaubt hat, in Emilias Bett zu schlafen. Sie würde sich jetzt gerne selbst da hineinlegen. Aber natürlich weckt sie ihn jetzt nicht, um ihn in ihr Bett zu schicken. Sie sitzt am Küchentisch, hat sich einen Tee gemacht und zwei Löffel Honig hineingetan. Ein Jahrzehnt liegt zwischen der alten Angst und der neuen. Auch damals lag Emilia im Krankenhaus, auch damals haben sie um ihr Leben geheult. Dagmar hatte vergessen, wie die Angst einen in die Zange nehmen kann, auf die Lunge drückt und das Atmen schwer macht. Sie hatte vergessen, wie sich die fürchterlichsten Gedanken durch den Kopf fressen. Wie es sich anfühlt, wenn man vor der Angst fliehen will und es keinen Ort der Welt gibt, wo sie einen nicht findet. Man kann sich erinnern, dass man Schmerzen, Furcht gehabt hat. Aber das Gefühl selber kann man nicht wieder aus dem Koffer holen. Dagmar hat es bis hierher geschafft. Hat Stärke gezeigt, Optimismus. Jetzt bröckelt die Fassade. Nach und nach fallen die ersten Steine aus der Mauer, die ersten Tränen auf den Tisch und in den Tee. Gut, dass so viel Honig drin ist. Aber wahrscheinlich würde sie es auch sonst nicht schmecken, weil es keine andere Wahrnehmung neben der Angst gibt. Sie sieht, dass sie zittert. Sie fühlt es nicht. Als ein dunkler, feuchter Laut aus ihrer Kehle schnappt, hält sie sich den Mund zu. Sie will Sophie und Michael nicht wecken. Sie schämt sich, gerade nicht optimistisch sein zu können. Aber ihr Kraftspeicher ist leer. Sie hat heute Nachmittag alles verpulvert. Sie weiß nicht, wie sie ihn bis zum Morgen wieder auffüllen soll.
    Am liebsten würde sie sich jetzt anziehen und ins Krankenhaus fahren. Sie würde sich gerne heimlich an Emilias Bett setzen und ihr tausend Gründe ins Ohr flüstern, warum sie überleben muss. Sie geht nicht. Weil sie weiß, dass sie sie da nicht sitzen lassen würden. Aber sie geht auch nicht, weil sie den Moment fürchtet, in dem sie die Station betritt. Wenn sie irgendjemanden ansehen muss, der weiß, wie es Emilia geht. Diese Situation möchte sie nicht alleine erleben. Sie hört schon fast die Einleitung »Es tut mir so leid, Frau Engels, aber …« Sie steht schnell auf, um den Satz nicht weiter hören zu müssen. Die Teetasse fällt auf den Boden, zerspringt laut. Mit einem Trockentuch wischt sie sich schnell die Tränen ab, dann den Tee vom Boden. Als Michael in die Küche kommt, sieht er natürlich, dass seine Exfrau geweint

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