Boeser Traum
umsorgen.
Zahlen zählen und einen Film träumen
C harlotta schreckt hoch. Sie war in einen Dämmerzustand verfallen. Als hätte jemand die Rollladen in ihr halb runtergelassen. Das Licht war nicht ganz ausgegangen. Schemenhaft waren noch Gedanken durch ihren Kopf getapert. Und plötzlich war da dieser eine, der sie hellwach macht. Ihr Herz rast sich selber hinterher. Werden ihre Eltern an eine Entführung glauben? Warum sollten sie das, wenn überhaupt keine Lösegeldforderung eingeht? Was werden sie denken, wenn sie verschwunden ist und irgendwann ihr Rad gefunden wird? Dafür braucht man doch eigentlich noch nicht mal zwei Finger. Wie konnte Emilia das übersehen? Wie naiv von ihr. Sie schlägt die Arme um sich selbst. Sie stellt sich die Panik der Eltern vor, die glauben müssen, ihre Tochter sei verschleppt worden. Wenn in den Nachrichten Meldungen von vermissten Mädchen kamen, hat ihr Vater meist umgeschaltet. Er konnte es nicht ertragen. Erst recht nicht, wenn Tage oder Wochen später die Gewissheit kam: Das Mädchen war missbraucht und getötet worden. Was, wenn Claudine und Uwe das jetzt denken? Charlotta schlägt sich die Hände vors Gesicht. Sie schämt sich. Wann wird Emilia endlich kommen? Sie muss auf jeden Fall bei den Eltern anrufen und Geld fordern. Die müssen auf jeden Fall wissen, dass es hier nur um eine doofe Entführung geht. Nicht um mehr. Das halten ihre Eltern sonst nicht aus. Sie müssen erfahren, dass die Tochter gesund ist. Dass es nur um Geld geht. Sie ist aufgestanden, hat sich an die nackte Wand gelehnt und schlägt mit der flachen Hand immer auf die Mauer. Das Geräusch gefällt ihr. Vielleicht ist es eine Möglichkeit. Sie fängt an zu schreien. Erst ruft sie nur leise. Ihre Stimme traut sich noch nicht so recht. Doch sie wird lauter. Vielleicht geht ja irgendwer da drauÃen vorbei und befreit sie. Dann kann sie immer noch den Mist von den ominösen Entführern erzählen. Vielleicht muss irgendjemand mit seinem Hund vor die Tür und geht ausgerechnet in den Wald hinter dem Klärwerk. Sie traut sich die Treppe runter, geht näher zum Fenster.
»Hilfe«, brüllt sie, so laut sie kann. »Ich bin hier unten.«
Sie kann nicht wissen, wie dick die Mauern sind, wie wenig durch die kleinen Scheiben nach auÃen dringt. Selbst wenn da jemand herginge, er würde sie nicht hören. Doch Charlotta ruft und brüllt und schreit. Vielleicht würde ein Hund kurz die Ohren spitzen. Aber da ist kein Hund. Da ist einfach niemand. Das Geschrei hat Charlotta erschöpft. Nach fünf, sechs Minuten wird sie leiser. Als ihre Stimme verstummt, fällt ihr die Stille wie ein Schlag auf den Kopf. Sie guckt auf die Uhr. Halb sieben. Sie starrt auf das Zifferblatt. Das kann nicht wahr sein. Erst halb sieben. Was macht Emilia wohl gerade? Sie wird im Bett liegen. Charlotta ist sich sicher. Sie sieht sie richtig vor sich. Die schwarz-weiÃe Bettwäsche, ein paar Wuschelhaare gucken oben raus, ein Fuà hängt raus. Sie schnellt rum. Ihr ist klar. Sie muss irgendwas machen. Sonst wird sie wahnsinnig. Charlotta geht die Treppe wieder hoch, zählt die Stufen. Sie kommt auf zwölf. Oben angekommen, geht sie rückwärts wieder runter, zählt weiter. Irgendwann stoppt sie bei 47. Spontan denkt sie 47 geteilt durch ⦠Sie geht wieder hoch, runter, zählt, stoppt irgendwann bei 17.
47 durch 17. Sie überlegt. Sie kommt auf zweikommanochwas. Sie versucht sich zu konzentrieren. Zweikommawas? Wie viel ist 130 durch 17?
Viel, beschlieÃt sie irgendwann, geht wieder los, stoppt irgendwann, geht wieder.
14 durch 5?
2,8.
18 durch 4?
4,5.
35 durch 9?
3,82. Wahrscheinlich.
26 durch 12?
2,1 und noch was.
Sie geht wieder sechs Stufen. Bleibt stehen. Und stehen.
6 durch 0?
Durch 0 darf man nicht teilen, oder? Warum noch mal nicht? Sie überlegt. Hat sie es überhaupt je gewusst? Oder hat sie es einfach hingenommen? Und wieso hat sie jetzt nicht hingenommen, dass sie in dieses Internat geht? Wäre es so schlimm gewesen? Sie ist sich jetzt plötzlich nicht mehr so sicher. Vielleicht hätten ihre Eltern sich an die Zusage gehalten und sie hätte nach einem Jahr wiederkommen können. Es gibt Mails, Skype, SMS , Chats. Sie traut sich nicht weiterzudenken. Bloà jetzt nicht alles infrage stellen. Gleich wird Emilia kommen. Danach wird sie sich besser fühlen. Sie muss die Umarmung
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