Boeser Traum
spüren. Wärme. Sie will ihren Kopf auf Emilias Schulter legen. Sie muss hören, dass alles richtig ist, alles perfekt läuft. Vielleicht hat Emilia auch was zu trinken dabei. Sie hat keine Lust mehr auf das abgestandene Wasser aus der Flasche. Sie stellt sich eine eiskalte Cola vor und fast ist ihr Mund schon wässrig. Oder ein Caffé Latte aus dem Kühlregal. Das wäre auch gut. Den Hunger hat sie hinter sich gelassen. Das Bedürfnis, auf Toilette zu gehen, ignoriert sie seit Stunden. Sie muss nicht pinkeln. Sie muss mehr. Wenn sie sich hinkniet, kann sie den Druck im Zaume halten. Er verschwindet dann wieder. Doch sie spürt, dass sie stinkt. Richtig fies stinkt. Wie gerne würde sie jetzt auf eine Toilette gehen, in eine saubere Dusche steigen, sich danach mit einem frischen Handtuch abrubbeln. Sie stellt sich vor, wie sie ihren Kopf in den Strahl hält, alles an ihr runterflieÃt. Danach würde sie ihr Shirt mit dem Affengesicht anziehen, eine Shorts und sich in die Sonne legen. Sie hätte nie gedacht, dass ihr Licht so fehlen kann. DrauÃen wird es heute wieder gleiÃend hell sein. In dem Keller kommt davon nur ein Bruchteil an. Alles wirkt dadurch so unwirklich, schemenhaft. Sie kniet sich wieder hin, drückt ihre Ferse fest gegen den Po. Es hilft nicht mehr. Sie muss kacken. Wenn sie jetzt den Eimer nicht benutzt, wird sie sich gleich in die Hose machen. Das wäre noch ekeliger. Langsam steigt sie hinab, streift die Jeans runter. Es kommt schnell und stinkt bestialisch. Sie spricht auf sich ein, flüstert sich zu: nicht denken. Nicht fühlen.
Langsam zieht sie die Jeans ganz aus. Dann den Slip. Sie wird ihn benutzen, um sich den Po damit abzuputzen. So gut es geht. Sie wirft die schmutzige Unterhose mit in die Plastiktüte und unterdrückt einen Würgereiz. Schnell steigt sie wieder in die Hose, schlieÃt sie und geht die Kellertreppe hoch. Sie kann nicht anders. Immer wieder muss sie zu dem Eimer mit der Tüte gucken. Sie erträgt den Anblick vier, fünf Minuten. Dann springt sie auf, nimmt eine ihrer Decken und legt sie über ihr provisorisches WC . Sie wird frieren heute Nacht. Doch frieren ist immer noch besser als nonstop dieses Kotzgefühl. Und auÃerdem: Vielleicht kann Emilia heute Abend noch mal kommen und ihr eine neue Decke mitbringen. Und Toilettenpapier. Ob sie Emilia bitten kann, die vollgekackte Tüte mitzunehmen und drauÃen irgendwo zu entsorgen? Wahrscheinlich wird sie wieder antworten, dass das zu gefährlich sei. Weil dann ihre Fingerabdrücke drauf wären. Klar, wenn irgendwo mitten im Wald eine Tüte mit einem Haufen drin gefunden wird, muss man die auch gleich auf Emilias Fingerabdrücke untersuchen. Charlotta fühlt, wie schon wieder die Wut in ihr siedet. Ein weiterer Blick auf die Uhr. Es ist noch nicht mal sieben. Sie reiÃt das Armband auf, wirft die Uhr mit aller Wucht auf den Boden. Natürlich tut es ihr sofort leid. Sie springt auf, stolpert die Treppe runter, hebt die Uhr auf. Sie war teuer, aber offenbar nicht sehr stabil. Das Glas ist gesprungen, ein Zeiger abgeknickt. Die Tränen kommen mit aller Wucht. Heià flieÃen sie über Charlottas Gesicht. Sie kann nicht sehen, dass sie dort kleine helle Spuren hinterlassen, weil der Staub auch das Mädchen schon besetzt hat. Es flieÃt und flieÃt. Stumm hockt sie da und wischt nur immer wieder mit dem Ãrmel über ihr Gesicht. Der ist irgendwann feucht, verrotzt, aber sie hat ja noch nicht mal Taschentücher. Alles steigt hoch. Selbstmitleid, Angst, Wut, Scham. Es ist eine sehr ungesunde Mischung â und immer noch nichts, was sie von sich selber ablenken kann.
Die Erkenntnis kommt von alleine. Sie selber muss sich beschäftigen. Sie muss sich eine Aufgabe suchen. Sonst wird sie wahnsinnig. Noch wahnsinniger. Hier in der Stille traut sie sich. Sie nimmt sich vor, sich einen Film auszudenken. Einen ganzen Film. Nicht nur kleine Szenen, wie sie es manchmal zwischendurch macht. Wenn es darum geht, was alle mal nach dem Abitur machen wollen, sagt Charlotta immer »Irgendwas mit Sprachen«. Das wird von ihr erwartet. Sie wird wahrscheinlich Französisch und noch irgendwas studieren. Emilia hat alle paar Monate neue Ideen. Und das wird von ihr irgendwie auch erwartet. Mal will sie Entwicklungshelferin werden, dann wieder in die Werbeszene. Der neueste Plan: Bildhauerin. Sie hatte Charlotta mit leuchtenden Augen von einer
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