Boeser Traum
uf der Intensivstation ist nicht zu sehen, dass gerade der Morgen anbricht. Dass Licht durch die Fenster fällt. Es wird nie dunkel auf einer Intensivstation. Die ganze Nacht über sind die Werte von Emilia kontrolliert worden. Sie sind nicht schlechter geworden. Und das ist schon mal eine gute Nachricht. Es ist die Welt der kleinen Schritte. Und manchmal ist Stillstand schon ein weiterer Schritt. Um kurz vor sechs ist Ãbergabebesprechung. Die Nachtschicht geht und informiert die Morgenschicht über Neuzugänge, Medikation, Vorkommnisse.
Julius hört sich wie immer alles aufmerksam an. Er ist konzentriert und trotz der frühen Zeit schon gut gelaunt. Das mögen die Kollegen an dem jungen Mann. Mehr noch: Er ist mit dem Herzen dabei. Er ist nicht der Typ, der gelangweilt die Wartezeit bis zum Medizinstudium abreiÃt und die ganze Zeit denkt: »Irgendwann komme ich als Arzt wieder und dann könnt ihr mal sehen.« Er zeigt Interesse, ist höflich, kann sich ausdrücken, wirkt nur sehr introvertiert. Selten schaut er jemandem direkt in die Augen. Seit sechs Wochen arbeitet er jetzt auf der Station. Er wäre lieber in der Kinderklinik geblieben, und nur die Chefärzte wissen, dass Julius da nicht bleiben konnte. Dass er nicht freiwillig die Station gewechselt hat. Er war einen Hauch zu nah an den Kindern. Hat sie ein bisschen zu oft gebadet, ein bisschen zu lange danach abgetrocknet. Nein, es hat keine Beschwerden von Kindern oder Eltern gegeben. Hätte es auch nie. Julius will sich nur kümmern. Mehr nicht. Aber die Krankenhausleitung wollte einfach nicht so lange warten, bis es eine eindeutige Situation gegeben hätte.
Bei der Besprechung hört Julius aufmerksam zu, macht sich ein paar Notizen. Oder tut zumindest so. Das berechtigt ihn dazu, den Kopf gesenkt zu halten. Er fürchtet, dass Lisas Augen ihn gerade wieder fixieren. Letzte Woche ist ihm zum ersten Mal aufgefallen, dass die Schwesternschülerin auffallend oft in seiner Nähe ist. Zu oft, als dass es wirklich zufällig sein könnte. Sie macht Pause, wenn er Pause macht. Hat oft in dem Zimmer zu tun, in dem er auch gerade ist. Wieso überhaupt hat sie schon wieder Frühschicht? Lisa ist ein hübsches Mädchen. Vielleicht ein, zwei Kilo über Idealgewicht. Vielleicht etwas zu kurze Beine. Das ist es nicht, was Julius stört. Ihn stört es, angeflirtet zu werden. Nein, es ist mehr als das: Es ekelt ihn an. Er verabscheut jeden Gedanken an ihren Körper, ihre präsente Weiblichkeit, gar an Sex.
Deswegen ist er auch auf der Suche nach einem neuen Zimmer. Er wohnt im Schwesternwohnheim und ist da mehr auf der Flucht, als dass er da lebt. Er duscht nur noch nachts. Vor ein paar Monaten ist er völlig verschlafen morgens in die falsche Dusche gegangen. Es war nicht abgeschlossen. Er hatte die Mitbewohnerin angestarrt, die dicken Brüste, die Scham, sah die fleischigen Oberschenkel. Es hatte lange gedauert, bis das Zittern nachgelassen hatte. Bis er wieder flach atmen konnte. Und auch die Geräusche jagen ihn. Immer wieder abends aus dem Nachbarzimmer dieses Stöhnen, Ãchzen. Er schläft nur noch mit Oropax, sitzt ansonsten mit Ohrstöpseln vorm Laptop.
Seine Gedanken sind kurz auf Reise gegangen. Vielleicht muss er sich bald nicht nur ein anderes Zimmer suchen, sondern auch einen neuen Job. Zu seinen Patienten zählt zurzeit auch eine schwerkranke Frau. Sie ist siebenunddreiÃig Jahre alt und ihr Haar ist genauso blond wie das seiner Mutter. Nur wenn er sie nicht anschaut, kann er sie betreuen. Er weià nicht, wie lange er das noch schafft.
»Julius, Sie können sich vielleicht auch ein bisschen um die Eltern von unserem Neuzugang, ihr Name ist Emilia, kümmern. Sie haben sehr groÃe Angst.«
Die Worte des Chefarztes holen ihn in die Realität zurück. Er nickt kurz zur Bestätigung. Nach der Besprechung geht Julius zu Emilias Bett. Friedlich sieht die Patientin aus, ein ganz klein bisschen Kind steckt noch in dem Gesicht. Der Körper liegt geschlechtslos unter der Decke. Er ist froh, dass es keine Hügel gibt. Die Werte sind unverändert. Wie sie wohl aussieht, wenn sie die Augen aufhat? Mit den kurzen Haaren wirkt sie fast ein bisschen knabenhaft. Er tut so, als kümmere er sich darum, dass die Decke am richtigen Ort liegt, das Bettzeug nicht verrutscht ist. Ein wohliges Gefühl steigt in ihm hoch. Er wird sich um sie kümmern, sie
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