Boeser Traum
hat.
»Entschuldigung, ich wollte dich nicht wecken«, sagt sie leise.
»Kein Problem. Ich habe eh nicht geschlafen.«
»Es ist wie damals, oder? Diese Unsicherheit, das Wartenmüssen. Es macht mich wahnsinnig«, schieÃt es aus ihr heraus.
»Ja, vielleicht ist es ein bisschen wie damals. Aber immerhin hatten wir mittlerweile zehn wundervolle Jahre mehr mit Emilia. Das ist doch schön«, sagt er sanft.
Dagmar Engels fährt herum und schlägt ihm ins Gesicht. Es klatscht laut. Er schüttelt nur den Kopf, starrt sie an.
»Wie kannst du so etwas sagen? Soll ich mich JETZT freuen? Dankbar sein? Hast du sie schon aufgegeben? Deine Tochter kämpft in diesem Krankenhaus um ihr nacktes Ãberleben, und du denkst daran, dass die letzten Jahre doch ganz hübsch waren. Ich hasse dich.«
Michael Engels reibt sich die Wange und sagt mit leiser Stimme: »Dagmar, ich habe Angst um unsere Töchter, seitdem sie auf der Welt sind. Als sie Radfahren gelernt haben, habe ich manchmal Autos um die Ecke biegen sehen. Ich habe Durchfall bekommen, als die Mädchen plötzlich alleine zur Schule gehen wollten. Ich habe überall Gefahr gewittert. Bei jeder Meldung über ein vermisstes, missbrauchtes, getötetes Kind habe ich an unsere Töchter gedacht. Ich lebe mit der Angst um sie, von dem Moment an, als ich sie das erste Mal blutig und verschmiert im Arm gehalten habe. Aber ich bin auch dankbar, so tolle Kinder zu haben. Auch wenn ich sie kaum noch sehe. Auch wenn sie mich noch nicht mal mehr in den Ferien besuchen wollen. Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt? Du hast sie jeden Tag. Du bekommst mit, was in ihrem Leben so passiert. Ich habe mich jetzt auf Facebook angemeldet, um überhaupt eine Vorstellung davon zu bekommen, was meine Töchter so erleben.«
Völlig erschöpft lässt Michael sich auf einen Stuhl fallen. Er streicht sich durch die Haare, steht wieder auf, geht zum Kühlschrank und holt sich ein Bier.
»Ja, ich habe sie jeden Tag. Ich habe jeden Tag das Geschrei und den Streit. Das Ankeifen, das Türenknallen. Angefangene Joghurts im Kühlschrank, schmutzige Wäsche in der ganzen Wohnung«, sagt Dagmar und setzt sich zu ihm. »Wenn mir jetzt einer versprechen würde, Emilia wird wieder gesund: Ich würde im Gegenzug versprechen, mich nie, nie wieder über Unordnung aufzuregen. Ich kenne nur keinen, der diesen Deal mit mir macht«, fügt sie an. Sie greift über den Tisch, nimmt die Flasche und einen tiefen Schluck.
»Ich habe mich so gefreut auf die Zeit hier. Wieder ein bisschen Familie spielen. Wieder ein bisschen wie früher spielen. In meiner Wohnung ist es immer sehr ruhig«, sagt Michael irgendwann zur Tischplatte.
»Ich glaube, eine ruhige Wohnung ist nicht so schlimm. Aber eine stille Wohnung, das ist unerträglich. Mir fehlt schon jetzt ihre Lautstärke. Emilia ist immer wie eine Windhose, die alles, was in ihrer Umgebung ist, mit sich reiÃt.«
»Wohin wollte sie überhaupt?«, fragt Michael Engels plötzlich.
Dagmar zuckt die Schultern. »Ich weià es nicht. Nicht genau. Offenbar hatte Emilia an diesem Wochenende ein Date. Eigentlich wollten wir wegfahren. Wir drei. Aber sie wollte partout nicht mit, hat sich total quergestellt. Irgendwann hat sie dann zugegeben, dass sie eine Verabredung hat, die ihr sehr wichtig war.«
»Hast du eine Ahnung mit wem?«
»Null. Es gab keine Anrufe in letzter Zeit oder so.«
Michael grinst schief und greift über den Tisch nach der vertrauten Hand. »Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber die Zeiten, wo brav zu Hause angerufen wird, sind vorbei. Da sagt niemand mehr höflich: âºGuten Tag, Frau Engels, ich hoffe, ich störe nicht, könnte ich wohl die Emilia sprechen?â¹ Die simsen oder verabreden sich per Chat.«
Dagmars Blick ist von ihrem Ex weggewandert zur Kühlschranktür. Da hängt viel. Mahnungen von der Bücherei, das weltbeste Waffelrezept, Fotos. Von Sophie und Emilia in den unmöglichsten Situationen. Sie steht auf und nimmt eins ab. Ein Foto, auf dem die Schwestern zusammen zu sehen sind. Es war irgendeine todlangweilige Familienfeier. Die Mädchen stehen nebeneinander in ihren »guten« Klamotten. Das Bild ist höchstens ein Jahr alt. Sophie hat ihr Sonntagsgesicht, lässt sich nichts anmerken. Emilia hat die Augen verdreht. Jeder kann sehen, was sie denkt: LANGWEILIG .
Weitere Kostenlose Bücher