Boeser Traum
blonde Haare. Sie sei ziemlich angetrunken und habe ein Piercing im linken Nasenflügel. Claudines Schultern gehen enttäuscht nach unten. »Wir hatten Ihnen doch gesagt, dass Charlotta ein grün-pinkes Shirt trägt. Kein weiÃes. Hätten Sie daran nicht denken können, anstatt mir unnötig Hoffnung zu machen?«, giftet sie in den Hörer.
Uwe macht besänftigende Handbewegungen.
»Wenn Ihre Tochter abgehauen ist, müssen wir wohl davon ausgehen, dass sie Kleidung zum Wechseln dabeihat«, sagt eine freundliche Beamtin am anderen Ende der Leitung.
»Da haben Sie wohl recht«, gibt Claudine nach einer längeren Pause zu. »Aber das Piercing passt auch nicht auf meine Beschreibung von meiner Tochter.« Sie legt langsam auf und dreht sich zu ihrem Mann. »Glaubst du, sie ist wirklich abgehauen? Kannst du dir vorstellen, dass sie heimlich eine Tasche gepackt hat und in den nächsten Zug nach Sonstwo gefahren ist? Würde sie uns das wirklich antun?«
»Ich weià nicht, was mir lieber wäre zu glauben.« Uwe Brandt hat die Hände in den Hosentaschen, deswegen sieht seine Frau seine Fäuste nicht. Mit aller Kraft schafft er es, nicht daran zu denken. Daran, was Kindern und Jugendlichen in dieser manchmal so kranken Welt passiert. Wenn er nur eine Sekunde diesen Gedanken mit seiner eigenen Tochter in Verbindung bringt, dann rastet er aus. Das weià Uwe Brandt und verbietet sich alle Gedanken in diese Richtung.
»Lass uns gucken gehen, ob Klamotten fehlen«, schlägt Claudine vor.
Stumm stehen beide vor dem übervollen Kleiderschrank.
»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass da was fehlt«, stellt ihr Mann tonlos fest. »Ãberleg du doch mal. Was würde sie auf jeden Fall mitnehmen?«
Claudine setzt sich auf Charlottas Bett, nimmt sich gedankenlos den einäugigen Igel, schaut ihn an.
»Den zum Beispiel«, sagt sie irgendwann und vor ihren Augen läuft ein Film. Charlottas fünfter Geburtstag. Sie hat ein neues Fahrrad bekommen, ein Hochbett, unzählige CDs, Lillifee-Bettwäsche und die heià ersehnten rosa-farbenen Turnschuhe. Von der Bank hatte sie diesen Igel bekommen. Ein nichts sagendes Werbegeschenk. Aber dieser Igel, der den schlichten Namen I trägt, hatte seitdem jede Nacht mit Charlotta verbracht. Er hatte ein Auge verloren, war schon an mehreren Stellen gestopft und Claudine tropfte ihn jetzt voll. Uwe nimmt ihn ihr aus der Hand und guckt dem Igel in das Auge.
»He, Kumpel, vielleicht ist deine Zeit vorbei«, versucht er lustig zu sein. »Claudine, im Ernst, was sind zurzeit ihre Lieblingsklamotten? Ãberleg doch mal.«
Sie reibt sich über die Augen. »Die lila Sweatshirtjacke mit Kapuze.«
Er wühlt kurz. »Ist da.«
»Die weiÃe Jeans mit den ReiÃverschlüssen unten.«
»Ist auch da«, vermeldet ihr Mann.
»Auf jeden Fall das Polo-Shirt mit dem Affen vorne drauf. Das liebt sie.«
»Welche Farbe?«
»Orange.«
»Liegt auch hier.«
Sie gucken sich an.
»Sie ist nicht freiwillig weg«, stellt die Mutter erstaunlich ruhig fest.
»Moment. Jetzt lass uns keine voreiligen Schlüsse ziehen. Es gibt so viele Möglichkeiten«, behauptet ihr Mann.
»Ja? Welche denn?« Claudine hat sich wieder den Igel genommen, streichelt über die Stacheln.
»Vielleicht wollte sie kurz zu einer Freundin, hat sich dann verquatscht, hat dann gemerkt, wie spät es ist und dass wir sauer sind. Deswegen hat sie sich nicht nach Hause getraut. Und dann hat sie sich überlegt: Wenn sie spät kommt, gibt es Ãrger. Wenn sie sehr spät kommt, sind wir erleichtert.«
Claudine guckt ihn verzweifelt mit schwimmendem Blick an. »Netter Versuch«, sagt sie leise.
Selbst Uwe Brandt würde im Traum nicht dran glauben, dass er der Wahrheit gerade kurz sehr nahe war.
»Vielleicht war es einfach eine Kurzschlussreaktion. Gar nicht geplant. Sie hatte ganz spontan die Idee: Ich haue ab«, schlägt Uwe Brandt vor.
»Und warum?«
Er setzt sich auf ihren Schreibtischstuhl, stützt die Ellenbogen auf die Knie. »So ganz glücklich war sie in letzter Zeit ja nicht. Die Entscheidung mit dem Internat hat sie schon sehr getroffen.«
»Gibst du mir jetzt die Schuld, dass unsere Tochter weg ist?«
Die Stimmung kippt. Es sind nicht mehr die Eltern, die sich gemeinsam um ihre Tochter sorgen. Es sind plötzlich nur noch
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