Boeser Traum
verlieren. Er hatte angefangen zu laufen, das half ihm. Dann rannte er durch den Wald, so schnell er konnte. Bis er zu ausgelaugt war für quälende Fantasien.
Es dauert, bis die Tür sich öffnete. Julius hat schon zweimal geklingelt. Der Vermieter ist alt und humpelt. Er lebt allein und leistet sich offenbar zu selten eine Putzfrau. Die abgestandene Luft schmeckt nach Sauerkraut und Fencheltee. Offenbar ist vor ungefähr drei Jahren das letzte Mal gelüftet worden. Das Zimmer im Souterrain hat eine Kochecke, ein winziges Bad und so gut wie kein Tageslicht. Julius fühlt sich wohl. Er hat das Gefühl, in eine Höhle zu schlüpfen. Er nimmt das Zimmer. Er kann nicht wissen, welchen Fehler er damit macht. In wenigen Tagen wird er sich in dem dunklen kleinen Zimmer wie gefangen fühlen. Die Luft wird sich wieder wie ein Film in ihm ausbreiten. Auch der Geruch nach Mann ist wieder da. Diese Mischung aus Rasierwasser und Testosteron. Wenn er abends im Bett liegt, drängen die Stimmen nach unten. Die kommen nur aus Fernsehfilmen, weil der alte Herr oben etwas taub ist. Doch für Julius ist alles wie früher. Eine Frauenstimme, eine Männerstimme. Lachen ab und zu. Wenn seine Sinne nachts ohne Kontrolle dem ausgesetzt sind, sind die Bilder hinter seinen geschlossenen Lidern schlimmer denn je. Realer. So schnell kann Julius gar nicht laufen.
Der heikle Teil beginnt
Z ur selben Zeit sitzt die Soko im Polizeipräsidium. Zwei Leute sind abgestellt, um zu überprüfen, ob in der letzten Zeit schwarze oder dunkelblaue Kombis in der Umgebung geklaut worden sind. Klaus Peters geht davon aus, dass der Wagen â wenn er mit Charlottas Verschwinden in Verbindung steht â mit Sicherheit gestohlen gewesen sein muss. Fünf dunkle BMW s, Audis und Mercedes sind im Umkreis von fünfzig Kilometern in der Nacht zu Samstag vermisst gemeldet worden. Die beiden Mitarbeiter haben damit genug zu tun. Wo sind die Autos entwendet worden? Sind sie schon wieder aufgetaucht? Haben die Besitzer Vorstrafen? Die Recherchen dauern.
Bernd und Corinna sitzen derweil auf einer Parkbank am Ententeich und starren auf das trübe Wasser.
Eine andere Beamtin ist im Umfeld vom Fundort des Rads unterwegs, dort geht sie von Tür zu Tür mit einem Foto von Charlotta. Das Bild ist im letzten Urlaub gemacht worden. Ein strahlendes Mädchen, dessen lange blonde Haare im Wind flattern. Natürlich erinnert sich keiner daran, sie gesehen zu haben. Mit der Kapuzenjacke hatte sie sich perfekt getarnt. Charlottas Eltern haben eine Liste mit allen Freundinnen, Kumpels, entfernten Bekannten ihrer Tochter gemacht. Die Liste wird nun von einer weiteren Mitarbeiterin abtelefoniert.
Klaus Peters hat sich mit Dagmar und Uwe in sein Büro gesetzt und bietet ihnen Kuchen an, den er schnell bestellt hat. Natürlich kriegen die Eltern keinen Bissen runter.
Klaus Peters spielt mit seinem Kugelschreiber. Wie soll er anfangen? Jetzt kommt der heikelste Teil. Er muss die Familie knacken. Das erfragen, was niemand sagen will. Er muss die wunden Punkte berühren.
»Worüber hat Ihre Tochter das letzte Mal geweint?« Er hat sich für den direkten Weg entschieden. Mit der Reaktion hätte er allerdings nicht gerechnet.
Uwe Brandt schlägt sofort die Beine übereinander, verschränkt die Arme vor der Brust. Dagmar beugt sich zu ihrer Tasche runter, tut so, als müsse sie irgendwas suchen.
Klaus Peters hält das Schweigen aus. Dagmar Brandt, die wieder gerade sitzt, ohne irgendwas gefunden zu haben, nicht mehr: »Haben Sie eine pubertierende Tochter? In dem Alter weinen Mädchen, weil der neue Nagellack doch nicht die Farbe vom Lippenstift hat. Weil ein anderes Mädchen dasselbe Shirt trägt. Weil das iPhone einen Kratzer hat.«
»Und worüber hat Charlotta in der letzten Zeit geweint?«
Dagmar Brandt erinnert sich an die unzähligen voll geheulten Tempos in Charlottas Zimmer. An unzählige Diskussionen zum Thema Internat. Sie hört wieder die Türen ins Schloss knallen. Was bitte soll das mit Charlottas Entführung zu tun haben? Sie geht zum Angriff über. »Unsere Tochter wurde entführt. Wahrscheinlich macht sich gerade ein Triebtäter über unser Mädchen her.« Ihre Stimme zittert, sie schluckt und holt tief Luft. Sie ist noch nicht fertig. »Und Sie wollen wissen, über was Charlotta in den letzten Tagen traurig war? Was soll das? Kann es sein, dass Sie
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